Seite - 2099 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Geringschätzung des bloß Gedachten und Gewünschten in die nur innerlich reiche Welt des
Primitiven und des Neurotikers einzutragen.
Wir stehen hier vor einer Entscheidung, die uns wirklich nicht leicht gemacht ist. Beginnen wir
aber mit dem Bekenntnis, daß der Unterschied, der anderen fundamental erscheinen kann, für
unser Urteil nicht das Wesentliche des Gegenstandes trifft. Wenn für den Primitiven Wünsche
und Impulse den vollen Wert von Tatsachen haben, so ist es an uns, solcher Auffassung
verständnisvoll zu folgen, anstatt sie nach unserem Maßstab zu korrigieren. Dann aber wollen wir
das Vorbild der Neurose, das uns in diesen Zweifel gebracht hat, selbst schärfer ins Auge fassen.
Es ist nicht richtig, daß die Zwangsneurotiker, welche heute unter dem Drucke einer Übermoral
stehen, sich nur gegen die psychische Realität von Versuchungen verteidigen und wegen bloß
verspürter Impulse bestrafen. Es ist auch ein Stück historischer Realität dabei; in ihrer Kindheit
hatten diese Menschen nichts anderes als die bösen Impulse, und insoweit sie in der Ohnmacht
des Kindes es konnten, haben sie diese Impulse auch in Handlungen umgesetzt. Jeder von diesen
Überguten hatte in der Kindheit seine böse Zeit, eine perverse Phase als Vorläufer und
Voraussetzung der späteren übermoralischen. Die Analogie der Primitiven mit den Neurotikern
wird also viel gründlicher hergestellt, wenn wir annehmen, daß auch bei den ersteren die
psychische Realität, an deren Gestaltung kein Zweifel ist, anfänglich mit der faktischen Realität
zusammenfiel, daß die Primitiven das wirklich getan haben, was sie nach allen Zeugnissen zu tun
beabsichtigten.
Allzuweit dürfen wir unser Urteil über die Primitiven auch nicht durch die Analogie mit den
Neurotikern beeinflussen lassen. Es sind auch die Unterschiede in Rechnung zu ziehen. Gewiß
sind bei beiden, Wilden wie Neurotikern, die scharfen Scheidungen zwischen Denken und Tun,
wie wir sie ziehen, nicht vorhanden. Allein der Neurotiker ist vor allem im Handeln gehemmt,
bei ihm ist der Gedanke der volle Ersatz für die Tat. Der Primitive ist ungehemmt, der Gedanke
setzt sich ohneweiters in Tat um, die Tat ist ihm sozusagen eher ein Ersatz des Gedankens, und
darum meine ich, ohne selbst für die letzte Sicherheit der Entscheidung einzutreten, man darf in
dem Falle, den wir diskutieren, wohl annehmen: »Im Anfang war die Tat.«
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin