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(5) Wo es sich um chronisch verlaufende Hysterien mit mäßiger, aber unausgesetzter Produktion
von hysterischen Symptomen handelt, da lernt man wohl den Mangel einer kausal wirksamen
Therapie am stärksten bedauern, aber auch die Bedeutung des kathartischen Verfahrens als
symptomatische Therapie am meisten schätzen. Dann hat man es mit der Schädigung durch eine
chronisch fortwirkende Ätiologie zu tun; es kommt alles darauf an, das Nervensystem des
Kranken in seiner Resistenzfähigkeit zu kräftigen, und man muß sich sagen, die Existenz eines
hysterischen Symptoms bedeute für dieses Nervensystem eine Schwächung seiner Resistenz und
stelle ein zur Hysterie disponierendes Moment dar. Wie aus dem Mechanismus der
monosymptomatischen Hysterie hervorgeht, bildet sich ein neues hysterisches Symptom am
leichtesten im Anschlusse und nach Analogie eines bereits vorhandenen; die Stelle, wo es bereits
einmal »durchgeschlagen« hat[1], stellt einen schwachen Punkt dar, an welchem es auch das
nächste Mal durchschlagen wird; die einmal abgespaltene psychische Gruppe spielt die Rolle des
provozierenden Kristalls, von dem mit großer Leichtigkeit eine sonst unterbliebene Kristallisation
ausgeht. Die bereits vorhandenen Symptome beseitigen, die ihnen zugrunde liegenden
psychischen Veränderungen aufheben, heißt den Kranken das volle Maß ihrer Resistenzfähigkeit
wiedergeben, mit dem sie erfolgreich der Einwirkung der Schädlichkeit widerstehen können.
Man kann solchen Kranken durch länger fortgesetzte Überwachung und zeitweiliges »chimney
sweeping«[2] sehr viel leisten.
(6) Ich hätte noch des scheinbaren Widerspruchs zu gedenken, der sich zwischen dem
Zugeständnisse, daß nicht alle hysterischen Symptome psychogen seien, und der Behauptung,
daß man sie alle durch ein psychotherapeutisches Verfahren beseitigen könne, erhebt. Die
Lösung liegt darin, daß ein Teil dieser nicht psychogenen Symptome zwar Krankheitszeichen
darstellt, aber nicht als Leiden bezeichnet werden darf, so die Stigmata; es macht sich also
praktisch nicht bemerkbar, wenn sie die therapeutische Erledigung des Krankheitsfalles
überdauern. Für andere solche Symptome scheint zu gelten, daß sie auf irgendeinem Umwege
von den psychogenen Symptomen mitgerissen werden, wie sie ja wohl auch auf irgendeinem
Umwege doch von psychischer Verursachung abhängen.
Ich habe nun der Schwierigkeiten und Übelstände unseres therapeutischen Verfahrens zu
gedenken, soweit diese nicht aus den vorstehenden Krankengeschichten oder aus den folgenden
Bemerkungen über die Technik der Methode jedermann einleuchten können. – Ich will mehr
aufzählen und andeuten als ausführen: Das Verfahren ist mühselig und zeitraubend für den Arzt,
es setzt ein großes Interesse für psychologische Vorkommnisse und doch auch persönliche
Teilnahme für den Kranken bei ihm voraus. Ich könnte mir nicht vorstellen, daß ich es zustande
brächte, mich in den psychischen Mechanismus einer Hysterie bei einer Person zu vertiefen, die
mir gemein und widerwärtig vorkäme, die nicht bei näherer Bekanntschaft imstande wäre,
menschliche Sympathie zu erwecken, während ich doch die Behandlung eines Tabikers oder
Rheumatikers unabhängig von solchem persönlichen Wohlgefallen halten kann. Nicht mindere
Bedingungen werden von Seiten der Kranken erfordert. Unterhalb eines gewissen Niveaus von
Intelligenz ist das Verfahren überhaupt nicht anwendbar, durch jede Beimengung von
Schwachsinn wird es außerordentlich erschwert. Man braucht die volle Einwilligung, die volle
Aufmerksamkeit der Kranken, vor allem aber ihr Zutrauen, da die Analyse regelmäßig auf die
intimsten und geheimstgehaltenen psychischen Vorgänge führt. Ein guter Teil der Kranken, die
für solche Behandlung geeignet wären, entzieht sich dem Arzte, sobald ihnen die Ahnung
aufdämmert, nach welcher Richtung sich dessen Forschung bewegen wird. Für diese ist der Arzt
ein Fremder geblieben. Bei anderen, die sich entschlossen haben, sich dem Arzte zu überliefern
und ihm ein Vertrauen einzuräumen, wie es sonst nur freiwillig gewährt, aber nie gefordert wird,
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin