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Literaturbericht im sechsten Band des Jahrbuches für sexuelle Zwischenstufen) E. Gley gewesen
sein, der einen Aufsatz (›Les aberrations d’instinct sexuel‹) schon im Jänner 1884 in der Revue
philosophique veröffentlichte. – Es ist übrigens bemerkenswert, daß die Mehrzahl der Autoren,
welche die Inversion auf Bisexualität zurückführen, dieses Moment nicht allein für die
Invertierten, sondern für alle Normalgewordenen zur Geltung bringen und folgerichtig die
Inversion als das Ergebnis einer Entwicklungsstörung auffassen. So bereits Chevalier (1893).
Krafft-Ebing (1895) spricht davon, daß eine Fülle von Beobachtungen bestehen, »aus denen sich
mindestens die virtuelle Fortexistenz dieses zweiten Zentrums (des unterlegenen Geschlechtes)
ergibt«. Ein Dr. Arduin (›Die Frauenfrage und die sexuellen Zwischenstufen‹) stellt im zweiten
Band des Jahrbuches für sexuelle Zwischenstufen 1900 die Behauptung auf: »daß in jedem
Menschen männliche und weibliche Elemente vorhanden sind (vgl. dieses Jahrbuch, Bd. I, 1899:
›Die objektive Diagnose der Homosexualität‹ von Dr. M. Hirschfeld, S. 8–9 u. f.), nur – der
Geschlechtszugehörigkeit entsprechend – die einen unverhältnismäßig stärker entwickelt als die
anderen, soweit es sich um heterosexuelle Personen handelt . . .« – Für G. Herman (1903) steht es
fest, »daß in jedem Weibe männliche, in jedem Manne weibliche Keime und Eigenschaften
enthalten sind« usw. – 1906 hat dann W. Fließ einen Eigentumsanspruch auf die Idee der
Bisexualität (im Sinne einer Zweigeschlechtlichkeit) erhoben. – In nicht fachlichen Kreisen wird
die Aufstellung der menschlichen Bisexualität als eine Leistung des jung verstorbenen
Philosophen O. Weininger betrachtet, der diese Idee zur Grundlage eines ziemlich unbesonnenen
Buches (1903) genommen hat. Die obenstehenden Nachweise mögen zeigen, wie wenig
begründet dieser Anspruch war.
[11] Die Psychoanalyse hat bisher zwar keine volle Aufklärung über die Herkunft der Inversion
gebracht, aber doch den psychischen Mechanismus ihrer Entstehung aufgedeckt und die in
Betracht kommenden Fragestellungen wesentlich bereichert. Wir haben bei allen untersuchten
Fällen festgestellt, daß die später Invertierten in den ersten Jahren ihrer Kindheit eine Phase von
sehr intensiver, aber kurzlebiger Fixierung an das Weib (meist an die Mutter) durchmachen, nach
deren Überwindung sie sich mit dem Weib identifizieren und sich selbst zum Sexualobjekt
nehmen, das heißt vom Narzißmus ausgehend jugendliche und der eigenen Person ähnliche
Männer aufsuchen, die sie so lieben wollen, wie die Mutter sie geliebt hat. Wir haben ferner sehr
häufig gefunden, daß angeblich Invertierte gegen den Reiz des Weibes keineswegs
unempfindlich waren, sondern die durch das Weib hervorgerufene Erregung fortlaufend auf ein
männliches Objekt transponierten. Sie wiederholten so während ihres ganzen Lebens den
Mechanismus, durch welchen ihre Inversion entstanden war. Ihr zwanghaftes Streben nach dem
Manne erwies sich als bedingt durch ihre ruhelose Flucht vor dem Weibe.
Die psychoanalytische Forschung widersetzt sich mit aller Entschiedenheit dem Versuche, die
Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe von den anderen Menschen abzutrennen.
Indem sie auch andere als die manifest kundgegebenen Sexualerregungen studiert, erfährt sie,
daß alle Menschen der gleichgeschlechtlichen Objektwahl fähig sind und dieselbe auch im
Unbewußten vollzogen haben. Ja die Bindungen libidinöser Gefühle an Personen des gleichen
Geschlechtes spielen als Faktoren im normalen Seelenleben keine geringere und als Motoren der
Erkrankung eine größere Rolle als die, welche dem entgegengesetzten Geschlecht gelten. Der
Psychoanalyse erscheint vielmehr die Unabhängigkeit der Objektwahl vom Geschlecht des
Objektes, die gleich freie Verfügung über männliche und weibliche Objekte, wie sie im
Kindesalter, in primitiven Zuständen und frühhistorischen Zeiten zu beobachten ist, als das
Ursprüngliche, aus dem sich durch Einschränkung nach der einen oder der anderen Seite der
normale wie der Inversionstypus entwickeln. Im Sinne der Psychoanalyse ist also auch das
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin