Seite - 2750 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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obwohl von außerordentlicher Bedeutung für das Seelenleben, psychologisch schwer zu erfassen
ist. Wir sind gewohnt zu sagen: jeder Mensch zeige sowohl männliche als weibliche
Triebregungen, Bedürfnisse, Eigenschaften, aber den Charakter des Männlichen und Weiblichen
kann zwar die Anatomie, aber nicht die Psychologie aufzeigen. Für sie verblaßt der
geschlechtliche Gegensatz zu dem von Aktivität und Passivität, wobei wir allzu unbedenklich die
Aktivität mit der Männlichkeit, die Passivität mit der Weiblichkeit zusammenfallen lassen, was
sich in der Tierreihe keineswegs ausnahmslos bestätigt. Die Lehre von der Bisexualität liegt noch
sehr im dunkeln, und daß sie noch keine Verknüpfung mit der Trieblehre gefunden hat, müssen
wir in der Psychoanalyse als schwere Störung verspüren. Wie dem auch sein mag, wenn wir als
tatsächlich annehmen, daß der Einzelne in seinem Sexualleben männliche wie weibliche
Wünsche befriedigen will, sind wir für die Möglichkeit vorbereitet, daß diese Ansprüche nicht
durch das nämliche Objekt erfüllt werden und daß sie einander stören, wenn es nicht gelingt, sie
auseinanderzuhalten und jede Regung in eine besondere, ihr angemessene Bahn zu leiten. Eine
andere Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß der erotischen Beziehung außer der ihr eigenen
sadistischen Komponente so häufig ein Betrag von direkter Aggressionsneigung beigesellt ist.
Das Liebesobjekt wird diesen Komplikationen nicht immer soviel Verständnis und Toleranz
entgegenbringen wie jene Bäuerin, die sich beklagt, daß ihr Mann sie nicht mehr liebt, weil er sie
seit einer Woche nicht mehr geprügelt hat.
Am tiefsten reicht aber die Vermutung, die an die Ausführungen in der Anmerkung 83 S. 229 f.
anknüpft, daß mit der Aufrichtung des Menschen und der Entwertung des Geruchssinnes die
gesamte Sexualität, nicht nur die Analerotik, ein Opfer der organischen Verdrängung zu werden
drohte, so daß seither die sexuelle Funktion von einem weiter nicht zu begründenden
Widerstreben begleitet wird, das eine volle Befriedigung verhindert und vom Sexualziel
wegdrängt zu Sublimierungen und Libidoverschiebungen. Ich weiß, daß Bleuler (1913) einmal
auf das Vorhandensein einer solchen ursprünglichen abweisenden Einstellung zum Sexualleben
hingewiesen hat. An der Tatsache des ›Inter urinas et faeces nascimur‹ nehmen alle Neurotiker
und viele außer ihnen Anstoß. Die Genitalien erzeugen auch starke Geruchsempfindungen, die
vielen Menschen unerträglich sind und ihnen den Sexualverkehr verleiden. So ergäbe sich als
tiefste Wurzel der mit der Kultur fortschreitenden Sexualverdrängung die organische Abwehr der
mit dem aufrechten Gang gewonnenen neuen Lebensform gegen die frühere animalische
Existenz, ein Resultat wissenschaftlicher Erforschung, das sich in merkwürdiger Weise mit oft
laut gewordenen banalen Vorurteilen deckt. Immerhin sind dies derzeit nur ungesicherte, von der
Wissenschaft nicht erhärtete Möglichkeiten. Wir wollen auch nicht vergessen, daß trotz der
unleugbaren Entwertung der Geruchsreize es selbst in Europa Völker gibt, die die starken, uns so
widrigen Genitalgerüche als Reizmittel der Sexualität hochschätzen und auf sie nicht verzichten
wollen. (Siehe die folkloristischen Erhebungen auf die ›Umfrage‹ von Iwan Bloch ›Über den
Geruchssinn in der vita sexualis‹ in verschiedenen Jahrgängen der Anthroprophyteia von
Friedrich S. Krauß.)
[86] Ein großer Dichter darf sich gestatten, schwer verpönte psychologische Wahrheiten
wenigstens scherzend zum Ausdruck zu bringen. So gesteht H. Heine: »Ich habe die friedlichste
Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett,
gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Tür einige schöne
Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, läßt er mich die Freude
erleben, daß an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit
gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben
zugefügt – ja, man muß seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt werden.«
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin