Seite - 2752 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
Bild der Seite - 2752 -
Text der Seite - 2752 -
[92] Wahrscheinlich mit der näheren Bestimmung: wie er sich von einem gewissen, noch zu
erratenden Ereignis an gestalten mußte.
[93] Man denke an Rousseaus berühmten Mandarin!
[94] Daß in dieser übersichtlichen Darstellung scharf getrennt wird, was sich in Wirklichkeit in
fließenden Übergängen vollzieht, daß es sich nicht um die Existenz eines Über-Ichs allein,
sondern um dessen relative Stärke und Einflußsphäre handelt, wird jeder Einsichtige verstehen
und in Rechnung bringen. Alles Bisherige über Gewissen und Schuld ist ja allgemein bekannt
und nahezu unbestritten.
[95] Diese Förderung der Moral durch Mißgeschick behandelt Mark Twain in einer köstlichen
kleinen Geschichte: The First Melon I ever Stole. Diese erste Melone ist zufällig unreif. Ich hörte
Mark Twain diese kleine Geschichte selbst vortragen. Nachdem er ihren Titel ausgesprochen
hatte, hielt er inne und fragte sich wie zweifelnd: »Was it the first?« Damit hatte er alles gesagt.
Die erste war also nicht die einzige geblieben.
[96] Wie von Melanie Klein und anderen, englischen Autoren richtig hervorgehoben wurde.
[97] Fr. Alexander hat in der Psychoanalyse der Gesamtpersönlichkeit (1927) die beiden
Haupttypen der pathogenen Erziehungsmethoden, die Überstrenge und die Verwöhnung, im
Anschluß an Aichhorns Studie über die Verwahrlosung zutreffend gewürdigt. Der »übermäßig
weiche und nachsichtige« Vater wird beim Kinde Anlaß zur Bildung eines überstrengen
Über-Ichs werden, weil diesem Kind unter dem Eindruck der Liebe, die es empfängt, kein
anderer Ausweg für seine Aggression bleibt als die Wendung nach innen. Beim Verwahrlosten,
der ohne Liebe erzogen wurde, entfällt die Spannung zwischen Ich und Über-Ich, seine ganze
Aggression kann sich nach außen richten. Sieht man also von einem anzunehmenden
konstitutionellen Faktor ab, so darf man sagen, das strenge Gewissen entstehe aus dem
Zusammenwirken zweier Lebenseinflüsse, der Triebversagung, welche die Aggression entfesselt,
und der Liebeserfahrung, welche diese Aggression nach innen wendet und dem Über-Ich
überträgt.
[98] Goethe, Lieder des Harfners in Wilhelm Meister.
[99] »So macht Gewissen Feige aus uns allen …« Daß sie dem jugendlichen Menschen
verheimlicht, welche Rolle die Sexualität in seinem Leben spielen wird, ist nicht der einzige
Vorwurf, den man gegen die heutige Erziehung erheben muß. Sie sündigt außerdem darin, daß
sie ihn nicht auf die Aggression vorbereitet, deren Objekt er zu werden bestimmt ist. Indem sie
die Jugend mit so unrichtiger psychologischer Orientierung ins Leben entläßt, benimmt sich die
Erziehung nicht anders, als wenn man Leute, die auf eine Polarexpedition gehen, mit
Sommerkleidern und Karten der oberitalischen Seen ausrüsten würde. Dabei wird ein gewisser
Mißbrauch der ethischen Forderungen deutlich. Die Strenge derselben würde nicht viel schaden,
wenn die Erziehung sagte: »So sollten die Menschen sein, um glücklich zu werden und andere
glücklich zu machen; aber man muß damit rechnen, daß sie nicht so sind.« Anstatt dessen läßt
man den Jugendlichen glauben, daß alle anderen die ethischen Vorschriften erfüllen, also
tugendhaft sind. Damit begründet man die Forderung, daß er auch so werde.
[100] Ich meine: Die Zukunft einer Illusion (1927 c).
2752