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[279] Wenn wir mit der biblischen Tradition so selbstherrlich und willkürlich verfahren, sie zur
Bestätigung heranziehen, wo sie uns taugt, und sie unbedenklich verwerfen, wo sie uns
widerspricht, so wissen wir sehr wohl, daß wir uns dadurch ernster methodischer Kritik aussetzen
und die Beweiskraft unserer Ausführungen abschwächen. Aber es ist die einzige Art, wie man ein
Material behandeln kann, von dem man mit Bestimmtheit weiß, daß seine Zuverlässigkeit durch
den Einfluß entstellender Tendenzen schwer geschädigt worden ist. Eine gewisse Rechtfertigung
hofft man später zu erwerben, wenn man jenen geheimen Motiven auf die Spur kommt.
Sicherheit ist ja überhaupt nicht zu erreichen, und übrigens dürfen wir sagen, daß alle anderen
Autoren ebenso verfahren sind.
[280] Wenn Moses ein hoher Beamter war, so erleichtert dies unser Verständnis für die
Führerrolle, die er bei den Juden übernahm; wenn ein Priester, dann lag es ihm nahe, als
Religionsstifter aufzutreten. In beiden Fällen wäre es die Fortsetzung seines bisherigen Berufs
gewesen. Ein Prinz des königlichen Hauses konnte leicht beides sein, Statthalter und Priester. In
der Erzählung des Flavius Josephus (Antiquitates judaïcae), der die Aussetzungssage annimmt,
aber andere Traditionen als die biblische zu kennen scheint, hat Moses als ägyptischer Feldherr
einen siegreichen Feldzug in Äthiopien durchgeführt.
[281] Das wäre etwa ein Jahrhundert früher, als die meisten Historiker annehmen, die ihn in die
19te Dynastie unter Merneptah verlegen. Vielleicht etwas später, denn die offizielle
Geschichtsschreibung scheint das Interregnum in die Regierungszeit Haremhabs eingerechnet zu
haben.
[282] Herodot, der Ägypten um 450 v. Chr. besuchte, gibt in seinem Reisebericht eine
Charakteristik des ägyptischen Volkes, die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit bekannten Zügen
des späteren Judentums aufzeigt: »Sie sind überhaupt in allen Punkten frömmer als die übrigen
Menschen, von denen sie sich auch schon durch manche ihrer Sitten trennen. So durch die
Beschneidung, die sie zuerst, und zwar aus Reinlichkeitsgründen, eingeführt haben; des weiteren
durch ihren Abscheu vor den Schweinen, der gewiß damit zusammenhängt, daß Set als ein
schwarzes Schwein den Horus verwundet hatte, und endlich und am meisten durch ihre Ehrfurcht
vor den Kühen, die sie nie essen oder opfern würden, weil sie damit die kuhhörnige Isis
beleidigen würden. Deshalb würde kein Ägypter und keine Ägypterin je einen Griechen küssen
oder sein Messer, seinen Bratspieß oder seinen Kessel gebrauchen oder von dem Fleisch eines
(sonst) reinen Ochsen essen, das mit einem griechischen Messer geschnitten wäre … sie sahen in
hochmütiger Beschränktheit auf die anderen Völker herab, die unrein waren und den Göttern
nicht so nahe standen wie sie.« (Nach Erman, 1905, 181.)
Wir wollen natürlich Parallelen hiezu aus dem Leben des indischen Volkes nicht vergessen. Wer
hat es übrigens dem jüdischen Dichter H. Heine im 19. Jahrhundert n. Chr. eingegeben, seine
Religion zu beklagen als »die aus dem Niltal mitgeschleppte Plage, den altägyptisch ungesunden
Glauben«?
[283] Dieselbe Anekdote in leichter Abänderung bei Josephus.
[284] An einigen Stellen des biblischen Textes ist noch stehengeblieben, daß Jahve vom Sinai
herab nach Merîbat-Qadeš kam.
[285] Meyer (1906, 38, 58).
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin