Seite - 2775 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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(Codex atlanticus, F. 65 V. nach Scognamiglio.)
[36] Havelock Ellis hat in einer liebenswürdigen Besprechung dieser Schrift (1910) gegen die
obenstehende Auffassung eingewendet, diese Erinnerung Leonardos könne sehr wohl eine reale
Begründung gehabt haben, da Kindererinnerungen oft sehr viel weiter zurückreichen, als man
gewöhnlich glaubt. Der große Vogel brauchte ja gerade kein Geier gewesen zu sein. Ich will dies
gerne zugestehen und zur Verminderung der Schwierigkeit die Annahme beitragen, die Mutter
habe den Besuch des großen Vogels bei ihrem Kinde, den sie leicht für ein bedeutsames
Vorzeichen halten konnte, beobachtet und später dem Kinde wiederholt davon erzählt, so daß das
Kind die Erinnerung an diese Erzählung behalten und sie später, wie es so oft geschieht, mit einer
Erinnerung an eigenes Erleben verwechseln konnte. Allein diese Abänderung tut der
Verbindlichkeit meiner Darstellung keinen Abbruch. Die spät geschaffenen Phantasien der
Menschen über ihre Kindheit lehnen sich sogar in der Regel an kleine Wirklichkeiten dieser sonst
vergessenen Vorzeit an. Es bedarf darum doch eines geheimen Motivs, um die reale Nichtigkeit
hervorzuholen und sie in solcher Weise auszugestalten, wie es von Leonardo mit dem zum Geier
ernannten Vogel und seinem merkwürdigen Tun geschieht.
[37] Ich habe eine solche Verwertung einer unverstandenen Kindheitserinnerung seither auch
noch bei einem anderen Großen versucht. In Goethes etwa um sein sechzigstes Jahr verfaßter
Lebensbeschreibung (Dichtung und Wahrheit) wird auf den ersten Seiten mitgeteilt, wie er auf
Anstiften der Nachbarn kleines und großes Tongeschirr durchs Fenster auf die Straße schleuderte,
so daß es zerschellte, und zwar ist diese die einzige Szene, die er aus seinen frühesten Jahren
berichtet. Die völlige Beziehungslosigkeit ihres Inhalts, dessen Übereinstimmung mit
Kindheitserinnerungen einiger anderer Menschenkinder, die nichts besonders Großes geworden
sind, sowie der Umstand, daß Goethe des Brüderchens an dieser Steile nicht gedenkt, bei dessen
Geburt er dreidreiviertel Jahre, bei dessen Tod er nahezu 10 Jahre alt war, haben mich veranlaßt,
die Analyse dieser Kindheitserinnerung zu unternehmen. (Er erwähnt dieses Kind allerdings
später, wo er bei den vielen Erkrankungen der Kinderjahre verweilt.) Ich hoffte dabei, sie durch
etwas anderes ersetzen zu können, was sich besser in den Zusammenhang der Goetheschen
Darstellung einfügte und durch seinen Inhalt der Erhaltung sowie des ihm angewiesenen Platzes
in der Lebensgeschichte würdig wäre. Die kleine Analyse (›Eine Kindheitserinnerung aus
Dichtung und Wahrheit‹ (1917 b)) gestattete dann, das Hinauswerfen des Geschirrs als magische
Handlung zu erkennen, die gegen einen störenden Eindringling gerichtet war, und an der Stelle,
an der die Begebenheit berichtet wurde, sollte sie den Triumph darüber bedeuten, daß kein
zweiter Sohn auf die Dauer Goethes inniges Verhältnis zu seiner Mutter stören durfte. Daß die
früheste, in solchen Verkleidungen erhaltene Kindheitserinnerung der Mutter gilt – bei Goethe
wie bei Leonardo –, was wäre daran verwunderlich?
[38] Vgl. hiezu das ›Bruchstück einer Hysterie-Analyse‹ (1905 e).
[39] Horapollo, Hieroglyphica 1, 11. Μητέρα δεράφοντες… γυ̃πα ζωγραφου̃σιν.
[40] Röscher (1894–97), Lanzone (1882).
[41] H. Hartleben (1906).
[42] »γυ̃πα δὲ άρρενα ού φασι γινέσθαι ποτε, αλλὰ θηλείας απάσας«
[43] Plutarch: Veluti scarabaeos mares tantum esse putarunt Aegyptii sic inter vultures mares
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin