Seite - 6 - in Friedensgutachten 2020 - Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa
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der Pandemie Gesundheitssysteme kollabieren, massive Engpässe bei der Versorgung mit
Nahrungsmitteln, Medikamenten und sauberem Trinkwasser eintreten, aber auch staatliche
Institutionen versagen und politische Unruhen sowie erhöhte Alltagsgewalt die Folge sind.
In den großen Konflikten der Gegenwart interessiert diejenigen das Virus nicht, die den
Konflikt zu ihren Gunsten entscheiden wollen. Die Opfer in den Krisenregionen konzentrie-
ren sich aufs unmittelbare Überleben – und sind dem Virus schutzlos ausgeliefert. In Idlib,
im Jemen oder im Südsudan wird nicht getestet oder behandelt, nur weiterverbreitet und
gestorben. Daher ist der Aufruf des VN-Generalsekretärs zu einem globalen Waffenstill-
stand in allen Teilen der Welt die richtige Antwort. Der Schutz von Zivilisten in bewaffneten
Konflikten, ohnehin eher Anspruch als Praxis, wird in Corona-Zeiten noch prekärer → 1.
Auch für Flüchtlinge verschärft sich die humanitäre Situation drastisch. Auf Lesbos wurden
im März/April 2020 die Lager abgeriegelt, sodass der Zugang zu sozialen Hilfsangeboten
und -projekten in einer Situation wegfiel, in der durch Überfüllung ohnehin Unruhen auf-
flammen konnten. Die EU setzte zugleich ihre humanitären Umsiedlungs-Programme aus.
Generell schotteten sich die Staaten, die es konnten, noch mehr ab als zuvor.
Die immensen Ressourcen personeller, finanzieller, aber auch kognitiver Natur, die Gesell-
schaften zur Bewältigung der Corona-Krise mobilisieren, werfen einen langen Schatten,
in dem andere Problemlagen und Gefährdungen des Friedens vernachlässigt werden oder
sogar aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden . Dazu zählen der Klimawandel → F,
der Zustand bürgerlicher Freiheiten in und außerhalb Europas → 2 oder die fortbestehen-
den Gefahren rechter Gewalt → 5.
Doch nicht nur die Aufmerksamkeit für Themen wandelt sich im Schatten von Corona. Auch
die Ebenen, auf denen Politik ausgehandelt und umgesetzt wird, verschieben sich ins
Nationale – bis hin zum Isolationismus. Ausgerechnet der Kampf gegen ein Virus, das sich
mit ungeheurer Geschwindigkeit über den ganzen Globus verbreitet, wird vor allem mit den
Mitteln nationaler Politik geführt. Geschlossene Grenzen, Alleingänge, Konkurrenz um
Schutzkleidung, medizinische Instrumente, Medikamente und Impfstoffe – die Corona-Krise
hat eine Tendenz verstärkt, die schon seit längerem zu beobachten war: Statt multilaterale
Zusammenarbeit zu suchen, gehen Staaten allein vor.
Hinzu kommt, dass Regierungen auf der ganzen Welt im Kampf gegen das Virus grund-
legende Freiheitsrechte einschränken. Dieser erhebliche Machtzuwachs der Exekutive
darf nicht grenzenlos andauern. Auslaufklauseln sind erforderlich, wenn Demokratie und
Bürgerrechte nicht dauerhafte Schäden davontragen sollen. Während in Deutschland und
in anderen Ländern schon früh die Gefahren eines Ausnahmezustands dieser Tragweite
diskutiert wurden, haben manche Regierungschefs wie etwa der ungarische Ministerprä-
sident Viktor Orbán die Corona-Krise als Möglichkeit genutzt, demokratische Strukturen
weiter zurückzubauen. Ein globaler Waf-
fenstillstand ist die
richtige Antwort in
der Corona-Krise
Nationale Allein-
gänge statt multilate-
raler Zusammenar-
beit im Kampf gegen
COVID -19
6 2020 / Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa / STELLUNGNAHME
Friedensgutachten 2020
Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa
- Titel
- Friedensgutachten 2020
- Untertitel
- Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5381-0
- Abmessungen
- 21.0 x 28.5 cm
- Seiten
- 162
- Schlagwörter
- Frieden, Bewaffnete Konflikte, Sicherheit, Internationale Politik, Entwicklungszusammenarbeit, Krieg, Gewalt, Politik, Konfliktforschung, Globalisierung, Politikwissenschaft
- Kategorie
- Recht und Politik