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Asylverfahren stark beschleunigt und anerkannte Flüchtlinge in aufnahmewillige EU-Staaten
umgesiedelt werden. Das würde nicht nur der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechen,
sondern auch dem Selbstverständnis europäischer Politik. Denn „ausgesetzte“ Humanität
ist schlicht inhuman.
↘ SOZIALE PROTESTE: VON DER REPRESSION ZU NEUEN UNRUHEN?
Massenprotestbewegungen sind ein globales Phänomen. Eine direkte Herausforderung für
die internationale Politik sind Anti-Regime-Proteste, die sich gegen politische Systeme als
Ganzes in Demokratien (z.B. Bolivien, Indonesien) und Autokratien (z.B. Algerien, der Sudan)
richten. Die durch diese Proteste vorangetriebenen politischen Umbrüche können zum
Aufbau einer freieren und gerechteren Gesellschaft führen, aber auch in politischer Instabi-
lität oder Gewalt münden. Dies gilt insbesondere dann, wenn Regierung und Sicherheitsap-
parate mit unverhältnismäßiger Repression reagieren. Die Bundesregierung sollte während
und vor allem nach dem Ende der Protestbewegungen eine proaktive Rolle bei Vermittlung
und Dialog einnehmen.
Die mit der Corona-Pandemie einhergehenden staatlichen Restriktionen und sozialen wie
ökonomischen Konsequenzen dürften die Zahl und Intensität von Protestbewegungen
zunächst begrenzen. Im März 2020 zeigte sich, dass sich einige der Bewegungen von der
Straße ins Internet oder auf die Balkone verlagerten (z.B. Proteste gegen die Monarchie
in Spanien). Abzuwarten bleibt, welchen Einfluss diese Art von Protest auf das politische Ge-
schehen ausüben kann. Mit zunehmender Dauer der Corona-Pandemie kann es jedoch sein,
dass es auch zu Massenprotesten auf der Straße gegen die erlassenen Einschränkungen
sowie gegen die ökonomischen und sozialen Auswirkungen kommt. Besonders dramatisch
ist die Lage dort, wo Menschen zwangsweise auf engstem Raum zusammen sein müssen,
etwa in Flüchtlingslagern, Slums und auch in Gefängnissen.
Eine weitere Auswirkung der Corona-Krise sind die gravierenden Eingriffe in die Grundrech-
te der Bürger, um die Verbreitung des Virus aufzuhalten. Während die Eingriffe in stabilen
demokratischen Systemen mutmaßlich temporärer Natur sind, eröffnen sie anderen
Regierungen die Möglichkeit, die eigene Macht zulasten demokratischer und individueller
Freiheitsrechte systematisch zu stärken. Es ist daher ein erheblicher Rückgang der demo-
kratischen Rechte weltweit zu befürchten, der über mehrere Jahre fortdauern könnte. Die
Bevölkerung wird sich gegen diese Eingriffe vermutlich erheben, wenn Regierungen ihre
Gesellschaften nicht vor den gravierenden Auswirkungen des Virus schützen können.
Ähnliches gilt im Falle wirtschaftlicher Verwerfungen, die vor allem besonders verwundbare
Bevölkerungsschichten treffen dürften. Gerade in fragilen Staaten sind dann Massenprotes-
te und letztlich sogar der Zusammenbruch von politischen Systemen möglich. Problema-
tisch ist, dass der Bundesregierung momentan strategische Leitlinien fehlen, wie sie auf
Protestbewegungen und die von ihnen ausgelösten politischen Umbrüche reagieren sollte. Deutschland sollte
proaktiv vermitteln
und Dialog fördern
zwischen Protest-
bewegungen und
Regierungen
Einschränkungen
aufgrund von Corona
gefährden demokrati-
sche Rechte weltweit 9
friedensgutachten / 2020
Friedensgutachten 2020
Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa
- Titel
- Friedensgutachten 2020
- Untertitel
- Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5381-0
- Abmessungen
- 21.0 x 28.5 cm
- Seiten
- 162
- Schlagwörter
- Frieden, Bewaffnete Konflikte, Sicherheit, Internationale Politik, Entwicklungszusammenarbeit, Krieg, Gewalt, Politik, Konfliktforschung, Globalisierung, Politikwissenschaft
- Kategorie
- Recht und Politik