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Sozioökonomische Forderungen spielten in den
Massenprotesten des Jahres 2019 eine prominente
Rolle. In Chile löste die Erhöhung der Metropreise
die Protestwelle aus, in Ecuador die Aufhebung von
Treibstoff subventionen, in Frankreich zunächst eine
erhöhte Besteuerung von Treibstoff
en, dann eine
Rentenreform, im Libanon eine Steuer auf Whats-
App-Telefonate und im Sudan die Streichung von
Brotsubventionen. Dass solch spezifi sche Maß-
nahmen zum Ausgangspunkt breiter Mobilisierung
werden konnten, verweist auf eine tieferliegende
Unzufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerungen
mit der wirtschafts- und sozialpolitischen Leistungs-
bilanz „ihrer“ Regierungen.
Die Protestforderungen beschränkten sich nicht
auf das Materielle. In den Demonstrationen arti-
kulierte sich generell die Kritik an Eliten, die die
Bevölkerung als abgekoppelt wahrnimmt, weil
diese die Bedürfnisse und Probleme der „normalen
Menschen“ ignorierten. Außerdem richtet sich der
Protest gegen politische Systeme, die relevanten
Teilen der Bevölkerung keine echten Mitsprache-
möglichkeiten einräumen. Deshalb erscheint der
Gang auf die Straße als einziger Ausweg. Entspre- chend weiteten sich die Proteste, die zunächst
auf die sozioökonomischen Verhältnisse zielten,
schnell inhaltlich aus und dauerten auch nach
Aufhebung der kritisierten Maßnahmen an. Dies
gilt für politische Systeme aller Schattierungen: In
Chile, lange als Musterland liberaler Demokratie
gefeiert, rückte die Forderung nach einer ver-
fassunggebenden Versammlung ins Zentrum der
Proteste. In Sudan wurde der Sturz des Diktators
Umar al-Bashir und der Übergang zu einer zivilen
Regierung erstritten. Im Libanon richten sich die
Proteste gegen ein relativ liberales politisches Sys-
tem, das einer kleinen Herrscherclique, die sich an
der Bereitstellung privater Infrastrukturleistungen
bereichert, als Camouflage dient. Gemeinsamer
Nenner ist die Kritik an der Dominanz von Oligar-
chen in Politik und Wirtschaft, die breiten Teilen
der Bevölkerung weder ernsthafte Beteiligungs-
chancen noch angemessene Lebensstandards
ermöglicht. Dabei ist auffällig, dass sich die Pro-
teste in erster Linie an die jeweils nationalen Re-
gierungen richteten. Globale Zusammenhänge und
externe Akteure wie der IWF standen – anders als
in früheren Dekaden – hingegen kaum im Zentrum.
22 Sozioökonomische Proteste und Elitenkritik
Menschenmengen auf die Straßen, v.a. in den nordwestlichen Ländern. Während Kli-
maproteste auch in anderen Regionen stattfanden, erreichten sie in den meisten Fällen
nicht die Schwelle von 50.000 Menschen. Eine Ausnahme sind die südamerikanischen
Länder Bolivien und Brasilien, die 2019 von massiven Waldbränden heimgesucht wur-
den. Fridays for Future ist so auch die wichtigste „transnationale Protestbewegung“
des vergangenen Jahres gewesen. Während Greta Thunberg als Symbol entscheidend
mit zur Mobilisierung beigetragen hat, sind die Protestbewegungen in den einzelnen
Ländern in der Hand von unterschiedlichen
Graswurzelbewegungen.2
78 2020 / Protestbewegungen, politische Umbrüche und Gewaltrisiken / NACHHALTIGER FRIEDEN
Friedensgutachten 2020
Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa
- Titel
- Friedensgutachten 2020
- Untertitel
- Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5381-0
- Abmessungen
- 21.0 x 28.5 cm
- Seiten
- 162
- Schlagwörter
- Frieden, Bewaffnete Konflikte, Sicherheit, Internationale Politik, Entwicklungszusammenarbeit, Krieg, Gewalt, Politik, Konfliktforschung, Globalisierung, Politikwissenschaft
- Kategorie
- Recht und Politik