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110 Anwendbarkeit der VN-Charta und bestehender völkerrechtlicher Verpflichtungen
im Cyberraum. Über die konkrete Anwendung dieser Bestimmungen konnte indes
keine Einigung erzielt werden. Kontrovers wurde das Recht auf Selbstverteidigung
debattiert sowie die Frage, was unter einem „bewaffneten Angriff“ zu verstehen sei.
Auch die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts, beispielsweise des Prin-
zips der Verhältnismäßigkeit militärischer Handlungen, war umstritten. Zwar ist im
NATO-Kontext mit den Tallinn Manuals 1 und 2 inzwischen eine fundierte juristische
Handreichung zu diesen Fragen entstanden; nicht-westliche Staaten äußern aber den
Vorwurf, dass dies auf die Legitimierung militärischer Operationen im Cyberraum
hinauslaufe.
Aufgrund dieser Konfliktlinien ging die fünfte GGE 2017 ohne einen Konsensbericht
auseinander. Daraufhin initiierten Russland, China und weitere Staaten einen alterna-
tiven Verhandlungsprozess, der 2019 in der Einsetzung der Open Ended Working
Group (OEWG) mündete, die sich parallel zur sechsten GGE konstituierte. Derzeit
sind die Folgen dieser Fragmentierung nicht absehbar. Es wird darauf ankommen,
dass die teilnehmenden Staaten auf dem erreichten Verhandlungsstand auf- und
diesen ausbauen. Dies schließt einen ganzen Katalog politischer Normen ein, der,
ausgehend vom Prinzip der Staatenverantwortung, im Kontext der GGE erarbeitet
wurde: Staaten dürfen demnach keine Cyberangriffe dulden, die von ihrem Territori-
um ausgehen. Sie dürfen nichtstaatliche Akteure nicht als Proxies zur Verschleierung
eigener Absichten nutzen. Sie sind angehalten, sich am zwischenstaatlichen Informati-
onsaustausch über Cybervorfälle zu beteiligen sowie angegriffenen Staaten zu helfen.
Außerdem dürfen sie die Arbeit von Computer Emergency Response Teams (CERT)
weder behindern noch missbrauchen. Solche Spielregeln können als weiches Recht
Bindewirkung entfalten und zum Ausgangpunkt für ein späteres Gewohnheits- oder
Vertragsrecht werden.
Vereinbarung rechtlich unverbindlicher Normen: Nichtstaatliche Akteure (v.a.
Unternehmen) treiben rechtlich unverbindliche Normbildungsprozesse voran. Bei-
spielsweise schlossen sich multinationale Konzerne (u.a. Siemens) 2018 in der Charter
of Trust zusammen. Sie betonen die Notwendigkeit erhöhter Sicherheitsstandards für
Lieferketten und Produkte. Zugleich richten sie Forderungen an die Staatenwelt, etwa
Cybersicherheit zum Kriterium für Freihandelsabkommen zu machen. Ein anderes
Beispiel für privatwirtschaftliche Unternehmen, die sich engagieren, ist Microsoft mit
seinem Konzept einer „digitalen Genfer Konvention“. Der Kerngedanke ist der Schutz
von Individuen und zivilgesellschaftlichen Institutionen in der digitalen Welt. Atta-
cken gegen Krankenhäuser, Stromnetze oder den internationalen Zahlungsverkehr
seien zu ächten. Offensive Cyberkapazitäten sollten in ihrer Wirkung präzise, begrenzt
und gegen eine unautorisierte Weitergabe gesichert sein. Entwicklung von Nor-
men zur Einhegung
von Cyberangriffen
2020 / Zwischen Cyberfrieden und Cyberkrieg / RÜSTUNGSDYNAMIKEN
Friedensgutachten 2020
Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa
- Titel
- Friedensgutachten 2020
- Untertitel
- Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5381-0
- Abmessungen
- 21.0 x 28.5 cm
- Seiten
- 162
- Schlagwörter
- Frieden, Bewaffnete Konflikte, Sicherheit, Internationale Politik, Entwicklungszusammenarbeit, Krieg, Gewalt, Politik, Konfliktforschung, Globalisierung, Politikwissenschaft
- Kategorie
- Recht und Politik