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Frühe Brücken
Wenn die Bewohner eines Ortes eine neue lebende
Brücke planen (Ludwig et al. 2020:74), so ist das ein
Langzeitprojekt und nicht eine Brücke, die es bereits
im darauf folgenden Jahr geben wird. Zuerst wird ein
Gummibaum an einem der Ufer des Flusses oder neben
der zu überwindenden Schlucht gepflanzt. Wenn die
Brückenbauer Glück haben, wächst bereits ein Gummi-
baum an einer geeigneten Stelle. Dieser bildet nach ei-
niger Zeit neben seinen Wurzeln im Erdreich zusätz-
liche Luftwurzeln, die von den Ästen gewöhnlich bis
zum Boden senkrecht hinunterwachsen, um dort selbst
wieder zu wurzeln. Das verleiht einem solchen Baum
auch eine erhöhte Standfestigkeit.
Die örtlichen Brückenbauer hindern aber die Luft-
wurzeln daran, vertikal nach unten zu wachsen, und lei-
ten sie stattdessen horizontal über eine eher kurzlebige,
leichte aus Bambus oder aus den dünnen Stämmen von
Areca-Palmen konstruierte Brücke. Diese Brücke wird
parallel zur Aufzucht des Gummibaumes gleich dane-
ben errichtet und über den Geländeeinschnitt und Fluss
gespannt. Die Luftwurzeln werden nun während ihres
Weiterwachsens um die dünnen Stangen der Brücke
gewunden, bis sie ihr anderes Ende erreicht haben. Hier
werden sie in fruchtbare Erde geführt, damit sie nun tat-
sächlich wurzeln können. In weiterer Folge entstehen
dann Tochterluftwurzeln, die ebenso ans Ufer gelenkt
werden und dort auch wieder im Erdreich wurzeln (Lud-
wig et al. 2020:74).
Bei dem oben beschriebenen Vorgang versucht man
die ersten Luftwurzeln mit den zweiten zu einer Art Git-
ter auf die Weise zu verflechten, dass die Luftwurzeln
durch künstlich herbeigeführte Verletzungen und An-
einanderführungen zur Kallusbildung gebracht werden.
Durch ein leichtes Aneinanderpressen zweier Wurzeln
kann es auch zu Verwachsungen kommen. Auf diese
Weise bemüht man sich darum, dass die Luftwurzeln
zu einem gemeinsamen zusammenhängenden gitter-
artigen Pflanzenkörper zusammenwachsen. So entsteht
mit der Zeit, oft erst nach Jahrzehnten, langsam ein trag-
fähiges lebendes Naturgitter, das eine Überquerung
der Brücke ohne zusätzliche Abstützungen unterhalb
zulässt. Dann ist die primäre provisorische Konstruk-
tion aus toten pflanzlichen Baustoffen meist längst ver-
morscht und verrottet. Nur bei genauer Betrachtung der lebenden Brücken erkennt man an manchen Stel-
len noch ihre Reste.
Zur weiteren Sicherung bemüht man sich über die ge-
samte Länge der Brücke darum, Luftwurzeln von höhe-
ren tragfähigen Ästen des Gummibaumes als lebende
Zugelemente zur Brücke hinunter zu ziehen, dass sie
mit den Luftwurzeln der Brücke verwachsen. So können
quasi pflanzliche “Hänger“ entstehen, die wie schräg
gespannte Seile zwischen tragenden Kabeln einer
Hängebrücke und der Laufebene wirken.
In der Provinz Meghalaya im Nordosten Indiens, wo
über weite Perioden des Jahres das Wetter extrem
feucht ist, sind die lebenden Brücken jeder Art von
Bau einer Lebenden Brücke
Frühe Brücken
Zug- oder druckbeanspruchte Konstruktionen, kreative, innovative und interessante Brücken
- Titel
- Frühe Brücken
- Untertitel
- Zug- oder druckbeanspruchte Konstruktionen, kreative, innovative und interessante Brücken
- Autor
- Hasso Hohmann
- Verlag
- Technische Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-833-2
- Abmessungen
- 20.0 x 27.0 cm
- Seiten
- 306
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen