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41 2.1 DAS DAZWISCHEN ALS AUFENTHALTSRAUM
Im Aufenthaltsraum bin ich fixiert und fixiere die Anderen. Ich bin nur anwe-
send und beobachte, wie es beim Warten in einem Aufenthaltsraum ĂĽblich ist.
In diesem Dazwischen herrscht ein ambivalenter Umgang mit dem Fremden,
es finden Begegnungen statt, aber keine Interaktionen.
2.1.1 IM ZUG
Ich saß im Zug nach Wien, neben mir döste Cara, der Hund meiner Eltern.
Die restlichen fünf Sitze im Abteil waren leer, die Tür war einen Spalt geöff-
net. Eine Zeit lang versuchte ich, mich auf mein Buch zu konzentrieren.
Die Kinder vom Nachbarabteil huschten immer wieder vorbei, um einen Blick
auf Cara zu werfen. Sie hatten ungewöhnliche, schöne bunte Kleider an. Ich
begann mich zu fragen, woher die Kinder kamen, was sie hier machten und
warum ... Im Stillen stellte ich fest, dass es sich um indische Kinder handeln
müsste — soweit ich es hören konnte, wechselten sie immer wieder zwischen
Hindi und Englisch. Als einer der Jungen, Josh, dann unvermittelt zu uns
(eigentlich zu Cara) ins Abteil kam, wurde meine Annahme ĂĽber seine Her-
kunft bestätigt. Während er sich fast auf Cara setzte, um sie zu streicheln
(wobei Cara seine wilden BerĂĽhrungen erstaunlich geduldig ĂĽber sich ergehen
ließ), begann er, ohne Aufforderung von sich zu erzählen. Dabei beantwortete
er all jene Fragen, die ich mir vorab gestellt hatte. Josh war sieben Jahre alt,
seine Eltern, so erzählte er, seien in Indien geboren und hätten dann in New
York gelebt, wo er auch aufgewachsen und in die Schule gegangen sei, bis er
mit seiner Familie vor einem Jahr nach Mumbai umzog. Hier in Ă–sterreich sei
er, weil er seine Tante besuche. Er liebe Tiere, Hunde und Katzen — in New
York habe er zwei Katzen, Blacky und Browny — die eine mit schwarzem, die
andere mit getigertem Fell. Die beiden habe er im MĂĽll gefunden, zu sich mit
nach Hause genommen und behalten dürfen. Als er weiter erzählte, dass
Browny von einem Auto ĂĽberfahren worden sei, wurde seine Stimme etwas
dĂĽnner, er hielt kurz inne. Aber Blacky, so fuhr er dann fort, habe er mit nach
Mumbai genommen, wo sie auf ihn warte. Als er mit seiner Erzählung fertig
war, stand Josh ebenso unvermittelt auf, wie er in das Abteil gekommen war.
“For a willingness to descend into that alien territory — where I have
led you — may reveal that the theoretical recognition of the split–space
of enunciation may open the way to conceptualizing an international
culture, based not on the exoticism of multiculturalism or the diversity
of cultures, but on the inscription and articulation of culture’s hybridity.”
(Bhabha 2004:56)
Es war ein wenig so, als wäre Josh einfach dem Buch von Homi Bhabha
entsprungen, das noch immer in meinem SchoĂź lag, als der Junge das Abteil
verlieĂź. Das Dazwischen manifestierte sich in jenen Momenten auf viel-
schichtige Art und Weise: in Form einer Zugreise von A nach B; durch Cara,
die als Vermittlerin zwischen mir und Josh fungierte; in Josh, dessen Leben
sich im GroĂźen zwischen New York und Mumbai abspielte und der gerade
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Kategorie
- Medien