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der Museumsbesucher_innen am studium wandelte. Das Museum wurde für
mich dann zum Arbeitsplatz im Dazwischen, wenn ich entgegen der veralteten
Berufsbezeichnung „Museumsführerin“ die Gedanken der Menschen (egal,
ob Kinder oder Erwachsene) zu den ausgestellten Werken nicht führte bzw. in
eine bestimmte Richtung lenkte, sondern stattdessen zwischen den Werken,
ihren Urheber_innen und den Museumsbesucher_innen vermitteln konnte;
wenn ich Situationen zulassen konnte, in denen sich die Besucher_in
nen ihren
Deutungsweg durch zumindest ein Werk einer Ausstellung selbst erschließen
und dabei von vorgefertigten Denkmustern abrücken konnten; wenn sie sich
von einem punctum berühren ließen; wenn nicht ich ihnen die Kunstwelt
erklärte, sondern sie ihre eigenen Lesarten entwickelten. In solchen Situatio-
nen wurden Perspektivenvielfalt und der Umgang mit Widersprüchlichkeit
zum zentralen Moment einer Ausstellung.
“I wanted to make shapes or set up situations that are kind of open …
My work has a lot to do with a kind of fluidity, a movement back and
forth, not making a claim to any specific or essential way of being.”
(Renée Green in Bhabha 2004: 4)
Roland Barthes entwickelte das Konzept von studium und punctum auf seiner
Suche nach dem Wesen der Fotografie. Bei meiner Arbeit im Museum ließ
sich dieses Konzept jedoch auf Malerei, Grafik und Skulpturen gleichermaßen
anwenden. Demzufolge kann mit studium und punctum nicht jene spezielle
Eigenart von Fotografie erfasst werden, die Fotos von allen anderen Bildern
(Gemälden, Grafiken, Skulpturen …) unterscheidet. Barthes verwirft auch im
weiteren Verlauf seiner Reflexionen bald die von ihm entwickelten Begriffe
studium und punctum als nicht ausreichend, um das Wesen der Fotografie
gedanklich zu erfassen.
„Ich mußte mir eingestehen, daß meine Lust ein unvollkommener
Mittler war und daß eine auf ihr hedonistisches Ziel beschränkte
Subjektivität das Universale nicht zu erkennen vermochte. Ich mußte
tiefer in mich selbst eindringen, um die Evidenz der PHOTOGRAPHIE zu
finden, das, was jeder, der ein Photo betrachtet, sieht, und was sie in
seinen Augen von jedem anderen Bild unterscheidet. Ich mußte meine
Einstellung ändern.“ (Barthes 1985: 70)
Er sieht sich als getrieben von dem Bedürfnis, tief unter die Oberfläche eines
Fotos einzutauchen, so tief, dass er quasi sein eigenes Berührtsein dort wieder-
findet. Ich folge seinen Ausführungen dazu; einmal sind sie von unbarm-
herziger Kritik hinsichtlich der Qualität einzelner Fotografien geprägt, dann
wieder von Faszination; durchwegs sind sie leidenschaftlich.
2.2.2 IN DER FOTOGRAFIE
Die Kamera
„Diese mechanischen Geräusche liebe ich auf eine fast wollüstige Art,
als wären sie an der PHOTOGRAPHIE genau das eine — und nur dies
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Kategorie
- Medien