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61 Darsteller_innen im Jahr 2003 ausgearbeitet habe und seither immer wieder
im kleinen Rahmen zur Aufführung bringe. Meine Choreografie hat sich
über all die Jahre hinweg nicht geändert und lässt sich mit wenigen Worten
beschreiben: Ich frage Menschen, denen ich unterwegs begegne, ob ich ein
Bild von ihnen machen darf. Das Werkzeug und das Konzept der Fotografie ist
immer dasselbe — meine Kamera und die Frage: „Darf ich ein Bild von dir
machen?“ — Zeit, Ort, Publikum, Darsteller_innen und die Sprache, in der ich
diese Frage stelle, ändern sich von Aufführung zu Aufführung. So kann ich als
Fotografin einen Arbeitsplatz im Dazwischen erschließen — indem ich nicht
allein meine Fotos konstruiere, sondern indem die Menschen vor meiner
Kamera das Bild gestalten und ich einen kleinen Teil davon durch das Auslö-
sen der Kamera festhalte. Die Fotografie eröffnet mir so einen Zugang zu den
Menschen. Ich komme als Fremde an einen Ort und kann mit meiner Kamera
zumindest für die Dauer einer „Aufführung“ mit den Menschen interagieren.
Es kam nur selten vor, dass ich die Menschen, mit denen ich meine
Choreografie aufführte, näher kennenlernte. Eine solche Ausnahme, die auch
zu einer Fotoserie führte, war Karima — ein Mädchen, das mir am Straßen-
rand vor dem kleinen Laden von Ghulam in Lahore begegnete. Zuerst kam sie
wie viele andere bettelnde Kinder auf uns zu. Sie kam immer wieder. Einmal
schenkte sie mir ein Armband, ein anderes Mal gingen wir gemeinsam essen.
Ich sprach kein Urdu, sie kein Englisch, aber irgendwie haben wir uns doch
miteinander unterhalten. Sie kam immer wieder, setzte sich zu uns. Manchmal
sang und tanzte sie auch. Das war ungewöhnlich. Nirgendwo sonst in Pakistan
hatte ich bisher eine Frau tanzend auf der Straße gesehen. Ich denke, sie galt
gerade noch als Kind. Als ich ein Jahr später wiederkam, tanzte sie nicht mehr
auf der Straße.
Das Silber
Es sind 35 Jahre vergangen, seit Barthes über Fotografie geforscht und
geschrieben hat. Die Fotografie hat sich verändert; inzwischen könnte Roland
Barthes — der seinerzeit befand, er habe zu wenig Geduld, um nach dem Auf-
nehmen noch auf das fertige Bild zu warten (Barthes 1985: 17) — als digitaler
operator jedes gemachte Foto sofort betrachten. Würde Barthes aufgrund
dieser Möglichkeit vielleicht heute die einst abgelehnte Rolle des operator
einnehmen? Für mich ist, im Gegensatz zu Barthes, genau dieser Aspekt der
unmittelbaren Sichtbarkeit eines aufgenommenen Bildes an der digitalen
Fotografie befremdlich. Ich will das Foto nicht sofort sehen, das ich mit und
von den Menschen vor meiner Kamera gerade gemacht habe. Das unmittel-
bare Betrachten des Resultats würde meine Aufmerksamkeit zu sehr von der
Situation ablenken, in der ich mich beim Fotografieren (und auch noch
danach) befinde. Manchmal komme ich in die Situation, dass die Menschen,
die gerade noch vor meiner Kamera gestanden haben, unvermittelt aus ihrer
Pose auf mich zuspringen, sobald sie das Klacken meines Auslösers gehört
haben. Da die meisten von ihnen die digitale Fotografie gewohnt sind, wollen
sie sofort das Bild anschauen. Ich muss sie dann enttäuschen und erklären,
dass das Bild vorerst nur in der kleinen Box am Rücken meiner Hasselblad
bestehen kann. Würde ich es gleich rausnehmen, wäre es innerhalb weniger
Sekunden im Tageslicht ausgelöscht. Ja, es bleibt immer die Ungewissheit, ob
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Kategorie
- Medien