Seite - 67 - in Generative Bildarbeit - Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
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67 erscheint mir immer größer. Die Befürchtung, eine jener Fotograf_innen zu
sein, von denen Roland Barthes schreibt oder die von der postkolonialen
Kritik als Reproduzent_innen orientalistischer Stereotype betrachtet werden,
setzt sich immer wieder in meinem Kopf fest.
Die Fotografie und der Tod
„Jeder Akt der Lektüre eines Fotos, […], jeder Akt des Einfangens und
Lesens eines Fotos ist implizit und in verdrängter Form ein Kontakt mit
dem, was nicht mehr ist, das heißt mit dem Tod. […] So jedenfalls erlebe
ich die Fotografie: als ein faszinierendes und trauervolles Rätsel.“
(Barthes 2002: 85)
Roland Barthes widmet sich auf seiner Suche nach dem Wesen der Fotografie
einer Kiste mit Fotos seiner Mutter. Sie war gerade gestorben, er voller Trauer.
Er beschreibt, wie er sich in den Fotos dieser Kiste verlor, teilweise in eine Zeit
eintauchend, an die er sich selbst nicht erinnern konnte. Er beschreibt einzelne
Fotos, die er in der Kiste fand, ohne sie jedoch als Abbildungen im Buch zu
zeigen. Und er beschreibt anhand dieser, für Lesende unsichtbaren Bilder
verschiedene Eigenschaften seiner Mutter, die er allesamt nicht in den Fotos
wiedererkennen kann. Ich stelle mir die Fotos vor. Er muss bedauernd feststel-
len, dass er in keinem der Fotos das Wesen seiner Mutter — so, wie sie sich
ihm gezeigt hatte — wiederfinden konnte, auch wenn ihm einige davon durch-
aus gefielen (Barthes 1985: 80–81). Barthes’ Ausführungen lösen in mir ebenso
Unbehagen wie Bewunderung aus, wenn er wieder und wieder von der großen
Liebe zu seiner Mutter, seiner Verehrung für sie und der großen Trauer über
ihren Tod schreibt. In meiner Vorstellung entsteht ein immer konkreteres Bild
von Roland Barthes in seiner tiefen Trauer, der schreibt, wie sehr die Eigen-
schaft der Vergänglichkeit der Fotografie anhafte und die Fotografie gleichzeitig
einen Versuch darstelle, die Vergänglichkeit zu überwinden.
Barthes’ Ausführungen über den Zusammenhang von Fotografie und
Tod rufen mir Bilder in Erinnerung, die ich am Straßenrand in Albanien vor-
fand. Hier fragte ich niemanden, ob ich fotografieren dürfe. Ich hatte lediglich
meinen Freund Erik gebeten, das Autofahren zu übernehmen, damit ich vom
Auto aus mit unserer Urlaubskamera knipsen konnte. Meine Hasselblad hatte
ich absichtlich zu Hause gelassen. Ich wollte eigentlich nicht fotografieren.
Als wir jedoch am Straßenrand so viele Bilder sahen, die wohl einerseits der
Erinnerung, anderseits aber als Mahnmale dienen sollten, musste ich doch ein
paar davon einsammeln. Beim Fotografieren fühlte ich mich zugleich rück-
sichtslos und ehrfürchtig gegenüber den fremden Menschen, die hier verun-
fallt und auf den Gedenksteinen abgebildet waren.
Fotokritik und der liebvolle Blick
Die Auseinandersetzung mit fotokritischen und postkolonialen Ansätzen
hält mich von Zeit zu Zeit nicht nur davon ab, Menschen zu fotografieren —
ich bin vorerst auch fotografisch-visuellen Ansätzen in der Wissenschaft aus-
gewichen. So habe ich beispielsweise Pierre Bourdieus fotografisches Werk
ignoriert und mich selbst in großer Distanz zu fotografischen Verfahren in den
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Kategorie
- Medien