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Sozialwissenschaften verortet. In den Algerienstudien von Pierre Bourdieu,
die für ihn jene Etappe seiner Laufbahn ausmachen, in der sich sein Selbst-
verständnis als Philosoph hin zu jenem eines Ethnologen und Soziologen
entwickelt, spielt die Fotografie als Forschungsinstrument eine große Rolle
(Schultheis/Frisinghelli 2003). Vorrangig dient sie ihm hier als Erkenntnis-
medium und Erinnerungswerkzeug, wie es in der Ethnologie und der Soziologie
methodisch etabliert ist. Ich stehe dieser Verwendungsweise der Fotografie
vor allem dann skeptisch gegenüber, wenn dabei ausschließlich der Evidenz
erzeugende Charakter der Fotografie und das Fotoprodukt im Zentrum
stehen. Fotografie wird so in einer reduktionistischen Form zur Anwendung
gebracht; zu leicht wird dabei übersehen, dass die Fotografie keine Abbilder
der Wirklichkeit produzieren kann. Zu oft wird im wissenschaftlichen Kon-
text aber gerade dieser Anspruch an sie gestellt. Das Beziehungsgeflecht, das
jedem fotografischen Akt zugrunde liegt, wird dabei meist gar nicht oder
nur in beiläufiger Form als Analysekategorie berücksichtigt. In der Annahme,
dass Pierre Bourdieu wohl auch als Ethnologe und Soziologe die Fotografie
hauptsächlich als eine Art koloniales Beweismittel verwendet hätte, lehnte
ich lange Zeit ab, mich mit seinen Fotografien auseinanderzusetzen. Erst
nachdem die Kunsthistorikerin Monika Faber in der Eröffnungsrede zu mei-
ner Ausstellung im Wiener Ragnarhof 2008 einen Bezug zwischen Pierre
Bourdieus und meinen Bildern herstellte und darüber auch in einem Artikel
schrieb (Faber 2012), begann ich, mich mit Bourdieus Zugang zur Fotografie
zu befassen.
Zuerst konnte ich diesen Bezug nirgends einordnen, wollte ihn nicht
verstehen, war vielleicht etwas ernüchtert darüber, dass meine Fotografien
mit ethnografisch/soziologischen Herangehensweisen assoziiert wurden.
„Es war dieser ,liebevolle‘ Blick, den ich an den Arbeiten von Vera
Brandner sofort so faszinierend fand. Ohne ihr unterstellen zu wollen,
dass sie Bourdieus Arbeit oder gar seine Worte über das Fotografieren
in Algerien gekannt hat, bevor sie aufbrach und sich selbst in die
,Fremde‘ begab, schien mir die Parallele in der Auffassung davon, was
mit der Kamera möglich sei, um Distanzen im ganz allgemeinen Sinn
zu vermindern, doch außerordentlich.“ (Faber 2012: 14)
Liebevoll? — Das klang für mich im ersten Hinhören abwertend, vorerst
fühlte ich mich unverstanden. Ein liebevoller Blick schien mir nicht vereinbar
mit einer grundsätzlich kritischen Haltung. Erst mit mehr Distanz konnte
ich erkennen, dass es sich hierbei um eine notwendige Dialektik handelt. In
Algerien hat Pierre Bourdieu ein fotografisches Werk geschaffen, das — vor
allem unabhängig von seiner Feldforschung betrachtet — den eigenständigen
Status des fotografischen Bildes nachvollziehbar macht und gleichzeitig auf
einen operator verweist, der einen hohen selbstreflexiven Anspruch an sich
als forschendes Subjekt stellt. Ich gehe dem Bezug nach, den Monika Faber
herstellte, schaue mir die Fotografien von Pierre Bourdieu an, bilde Paare mit
seinen und meinen Fotos (Schultheis/Frisinghelli 2003).
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Kategorie
- Medien