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Mission und Entwicklungskritik
Umsetzen konnte ich das ipsum-Konzept erstmalig im Rahmen eines Prakti-
kums bei „initiativ Angola“ in einer Missionsstation des „Don-Bosco-Ordens“
in Cacuaco, nicht weit von Angolas Hauptstadt Luanda. Mission und Ent-
wicklungskritik? Wie konnte ich mich auf dieses Spannungsfeld einlassen?
Ich nehme an, es war eine gewisse Unbedarftheit beiden Aspekten gegenüber,
jedenfalls auch eine Neugier, verbunden mit dem dringenden Wunsch, Foto-
grafie und Entwicklungszusammenhänge in Bezug zueinander zu setzen und
praktisch zu hinterfragen. Ich war nicht alleine nach Angola aufgebrochen.
Johanna, mit der ich schon in Kärnten zur Schule gegangen war, war meine
Reisegefährtin. Die Missionsschwestern vor Ort hatten mir erlaubt, mein
Konzept ganz so umzusetzen, wie ich es für richtig hielt. Sie schenkten mir
ungemein viel Vertrauen, vielleicht ein wenig zu viel, in Anbetracht meiner
mangelnden Erfahrung. Im Laufe der Zeit führten wir allerdings auch das eine
oder andere Streitgespräch mit ihnen — so einmal, als in der Missionsstation
eine große Veranstaltung zur HIV-/Aids-Aufklärung für Jugendliche stattfand: Im
Schulhof war eine Bühne aufgebaut, ungefähr 200 Jugendliche waren gekom-
men, Johanna und ich waren im Publikum. Auf der Bühne hielt ein Mann mitt-
leren Alters einen Vortrag über die Gefahren des HI-Virus, die Übertragungs-
risiken und die Möglichkeiten, diese Risiken zu vermeiden. Er erklärte, dass
HIV und Aids eine Strafe Gottes seien und die Verwendung von Kondomen
direkt in die Hölle führe. Wir dachten zuerst, wir würden ihn nicht richtig ver-
stehen. Dann waren wir bestürzt. Zwar hatten wir bereits öfter gehört, dass
Aids-
Aufklärung im katholischen Missionszusammenhang genau so betrieben
werde — wir mussten es aber wohl erst mit eigenen Ohren hören, um es tatsäch-
lich zu glauben. Dass wir über diese Art der Aufklärung schockiert waren, konn-
ten die Schwestern nicht nachvollziehen, und wir waren auch nicht in der Lage,
unsere Argumente sachlich darzulegen. In dieser Situation war uns die Missi-
onsstation eher ein Aufenthaltsraum im Dazwischen, weniger ein Arbeitsplatz.
Im Rahmen des Fotografieprojekts konnten wir jedoch einen kleinen
Arbeitsplatz im Dazwischen von Mission und Entwicklungskritik einrichten.
Die Teilnehmer_innen ließen sich auf intensive Art und Weise auf ihr eigenes
Fotografieren und auf die Auseinandersetzung mit den Anderen in der Gruppe
ein. Von der Vergangenheit als Kindersoldat bis hin zu kulturellen Aspekten,
Glaubensfragen, Rassismus und HIV/Aids — es wurden Themen der Alltags-
welt aufgegriffen, diskutiert und kritisch hinterfragt.
Dabei entstanden nicht nur Bilder aus einer anderen Perspektive.
Durch den Prozess, in dem sich die Beteiligten beim Fotografieren, Auswählen
und vor allem in der Auseinandersetzung mit den Anderen in der Gruppe
befanden, wurde ein Raum für wechselseitiges Lernen geschaffen. Die Fotos
der Teilnehmer_innen begannen in diesem Raum zu zirkulieren und konnten
immer wieder neue Bilder von Eigen und Fremd evozieren. Die Ambivalenzen,
die mich selbst — in meinem Sein und Tun zwischen Mission und Entwick-
lungskritik — herausforderten, wurden in der Arbeit mit den Jugendlichen im
Fotografieprojekt auf einmal greif- und verhandelbar. Diese Erfahrung wurde
für mich zum entscheidenen Impuls, die Arbeit, die ich in Angola als Pilot-
projekt begann, anschließend mit Freund_innen und Kolleg_innen inhaltlich
weiterzuentwickeln und auch in Form des Vereins ipsum zu konstituieren.
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Kategorie
- Medien