Seite - 78 - in Generative Bildarbeit - Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
Bild der Seite - 78 -
Text der Seite - 78 -
78
zwischen Lehrer_innen und Schüler_innen fest etabliert ist. Solche Situationen
finde ich vor allem in Schulen und an Universitäten vor, in denen Bildung
in ein umfassendes Bewertungssystem eingebettet ist. In solchen Zusammen-
hängen dauert es entsprechend lange, einen wechselseitigen Lernraum zu
schaffen, da zuerst die hohe Relevanz, die dem Bewertungssystem meist zuge-
sprochen wird, durch den Aufbau von gegenseitigem Vertrauen ein Stück weit
relativiert werden muss. Schwierig wird es auch im umgekehrten Fall, wenn
unter dem Konzept des wechselseitigen Lehrens und Lernens weniger eine
innere Haltung als ein permanenter Rollentausch ohne klare Ordnungs-
strukturen verstanden wird. Dann verschwimmen die Grenzen zwischen den
Rollen und Verantwortungsbereichen allzu leicht, was zur Verwirrung aller
Beteiligten führt.
Einmal entschied ich mich in meiner Tätigkeit als ipsum-Moderatorin
spontan zum Mitmachen im Gruppenkontext und brachte dadurch das beste-
hende Gefüge durcheinander. Das geschah zu Beginn einer Kleingruppen-
arbeit in Haifa/Israel, noch bevor die Teilnehmer_innen in die Phase des eige-
nen Fotografierens gekommen waren. Wir arbeiteten immer zu zweit als
Workshopleiter_innen in einer Gruppe und wechselten uns in der Anleitung
zu verschiedenen Methoden ab. Als meine Kollegin eine Methode zur Eigen-
und Fremdbildwahrnehmung erklärte, bei der sich jeweils zwei Personen
gegenübersitzen und sich gegenseitig mit Pinsel und Farben porträtieren,
machte ich auch mit, da an diesem Tag eine ungerade Zahl an Teilnehmer_
innen erschienen war. Mir gegenüber saß Asaf, wir malten einander und spä-
ter erzählten wir uns, was wir von unseren gegenseitigen Ansichten hielten.
Asaf erkannte sich im von mir gemalten Bild als Soldat wieder — mit Helm
auf dem Kopf, eher klein und verzweifelt, wie er meinte. Es gab aus meiner
Sicht keine eindeutigen Kennzeichen dafür. Sein von mir angefertigtes Porträt
hatte ihn emotional stark berührt. Erst, als er mir das Porträt aus seiner Sicht
erklärte, wurde mir ganz bewusst, dass ich nicht einfach irgendein Bild meines
Gegenübers gemalt hatte — es war darauf tatsächlich ein Soldat zu erkennen.
In der Gruppendiskussion sahen auch die anderen Teilnehmer_innen Asaf
in meinem Bild als kleinen Soldaten unter einem großen Helm dargestellt. In
der Folge kreiste die Auseinandersetzung in der Gruppen diskussion immer
wieder um mein Bild von Asaf.
Mein Versuch, die Situation aus verschiedenen Blickwinkeln zu
betrachten: Ich trat in diesem Moment einem Menschen sehr nahe, ohne ihn
zu kennen. Durch einen spontanen Rollenwechsel von der Moderatorin zur
Teilnehmerin überschritt ich meine Grenzen wie auch jene, die wir bei der
Arbeit von ipsum vorab festgelegt hatten. Und doch: Ich betrachte diese Grenz-
überschreitung auch als wertvolle Erfahrung in der Methodenentwicklung.
Ich erfuhr durch das Mitmachen bei dieser Übung in dem speziellen Kontext
von Haifa einmal mehr, wie sehr sich die Wirkkraft dialogischer Bildmethoden
entfalten kann. Ohne es zu wollen, hatte ich meine Vorurteile in einer Situation
kultureller Differenz zum Ausdruck gebracht. Es handelte sich um ein Bild-
Entstehen, das von meinem Unterbewusstsein geleitet war. Den Soldaten hätte
ich selbst in meinem Bild nicht erkannt — erst durch die gemeinsame Ausein-
andersetzung in der Gruppe und mein darauffolgendes Nachdenken konnte
ich mein eigenes Bild begreifen. Mit der Frage im Kopf, wie es geschehen
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Kategorie
- Medien