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81 konnte, dass ich Asaf mit Helm, als Soldat, malte, kam mir ein Foto in Erinne-
rung, das ich ein halbes Jahr zuvor, als ich mit ipsum in Ramallah tätig war,
an einem der Checkpoints von einem Soldaten gemacht hatte, der Asaf nicht
unähnlich war. Vielleicht beruhte mein Bild von Asaf auf einer Mischung
aus meinen Vorurteilen gegenüber jungen Menschen in Israel („Sie sind alle
Soldaten“) und der Erfahrung, die ich ein halbes Jahr zuvor in den palästinen-
sischen Gebieten gemacht hatte: dass, wenn man dort Israelis traf, diese tat-
sächlich meist Soldat_innen waren.
Anders betrachtet: Ich hatte in Israel als Österreicherin — die noch
dazu, was alle in der Gruppe wussten, auch in den palästinensischen Gebieten
tätig war — meine eher klar umrissene Rolle der Moderatorin gegen die weniger
sichere einer Teilnehmerin eingetauscht. Ich hatte mich beim Malen ein StĂĽck
weit entblößt. Dadurch wurde ich angreifbar und griff — im Moment — selbst
an. Vielleicht war es jener Moment im Arbeiten mit meiner Kleingruppe, der
mein Tun und meinen von mir mitgebrachten Kontext fĂĽr alle transparenter
machte. Vielleicht wollte oder konnte ich mich selbst in dieser Situation nicht
ganz aus dem Prozess heraushalten.
Und nochmals anders betrachtet: Es ergab sich speziell bei der Projekt-
tätigkeit in Haifa eine Situation, in der wir als Österreicher_innen eine etwas
andere Rolle hatten als zum Beispiel bei den Projekten in Lahore oder in
Kabul. Die Menschen, mit denen wir arbeiteten, waren in Haifa ungefähr in
unserem Alter und die Geschichten unserer Eltern und GroĂźeltern waren und
sind durch den Holocaust auf grausame Art und Weise miteinander verwoben.
Das war in dieser ausgeprägten Form in keinem anderen Projektzusammen-
hang der Fall. Hätten wir in dieser Konstellation das ipsum-Projekt darauf
ausgerichtet, dass junge Menschen aus Ă–sterreich und Israel gemeinsam
in einen Bilddialog treten und ihre generativen Themen in Bezug auf die Ver-
gangenheit ihrer Familien erforschten, wäre es ganz legitim gewesen, dass
einige Personen aus dem ipsum-Team auch an den Gruppenprozessen teil-
nehmen. Vielleicht wäre es in dieser Konstellation auch sinnvoll gewesen,
die ursprüngliche Ausrichtung auf einen Dialog zwischen Israelis und Palästi-
nenser_innen um einen Dialogprozess zwischen Ă–sterreicher_innen und
Israelis zu erweitern.
Fazit: Das eigene Rollenverständnis für sich selbst zu klären und den
Anderen klar zu vermitteln, erweist sich in allen Bereichen, in denen ich
das Dazwischen als Arbeitsplatz erfahren habe, als zentrale Herausforderung,
die darin besteht, entsprechende Umgangsformen fĂĽr Ambivalenzen zu
entwickeln. Es stellt sich immer wieder die Frage: Wie lassen sich Rahmen-
bedingungen schaffen, in denen Menschen in einer dynamischen Ordnung —
zwischen Struktur und Freiheit — miteinander arbeiten und sich entfalten
können?
2.2.4 BILDUNG
Mein Bildungsverständnis gründet auf der Bildungserfahrung in meiner
Schulzeit, meiner Studienzeit sowie auf Begegnungen mit vielen Menschen
und auf Erfahrungen an den Arbeitsplätzen im Dazwischen, von denen ich
bisher geschrieben habe.
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Kategorie
- Medien