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85 „Erstaunlich für mich ist der Aufwand und die mechanische Speiche-
rung von Inhalten und der Gebrauch von Wiederholungsübungen, die
die Grenzen der Vernunft übersteigen, während eine kritische Bildung
zur Neugier zur Nebensache wird […].“ (Freire 2007: 89)
Wird die Neugier der Schüler_innen nicht methodisch genutzt, werden sie
nach Freire in der Schule zu Behältern, die mit Dingen gefüllt werden, die
sie selbst nicht betreffen — was für Lehrer_innen und Schüler_innen gleicher-
maßen nachteilig ist. Die Neugier wird nicht als Methode genutzt, wenn die
Lerninhalte von Lehrbüchern, Curricula und Lehrpersonen, fernab von den
tatsächlichen Bedingungen der Schüler_innen, vorgegeben werden.
„Die Folge ist: wir entwerfen immer wieder Antworten auf Fragen, die
uns nie gestellt worden sind, ohne den Schüler auf die Bedeutung der
Neugier aufmerksam zu machen.“ (ebd.: 89)
Bildungsalternativen
Im Museum hat mich das Vermitteln zwischen Kunstwerken und Betrachter_
in
nen zum Nachdenken über Bildungsalternativen angeregt. Es ging darum,
die Betrachter_innen ihre eigenen Bilder-Lesarten entdecken zu lassen, ihren
Ideen dabei nicht mit Faktenwissen zuvorzukommen. Das Arbeiten mit der
Fotografie hat mich dazu angeregt, Möglichkeit des Rollen- und Perspektiven-
wechsels in meiner eigenen Arbeit als Fotografin und in der Folge im Rahmen
der ipsum-Projekte auszuloten. Das Bildermachen, Bilderlesen, Geschichten-
erzählen bzw. das Zuhören und Hinterfragen von Gesehenem, Gezeigtem
und Erzähltem führt dabei fortwährend zu neuen Bildern, Perspektiven und
Geschichten.
Meine Idee von Bildungsalternativen steht dem Bildungsideal von
Paulo Freire sehr nahe. Freire stellt sozusagen dem Maxwell’schen Dämon im
Bankiersystem der Erziehung die problemformulierende Bildung sowie den
Begriff conscientizacão (dt.: Bewusstseinsbildung) entgegen. Bildung wird bei
ihm zu einem Arbeitsplatz im Dazwischen, mit dynamischer Ordnung durch
ein wechselseitiges Lernen der Beteiligten. Es sind dazu Lehrer_innen von-
nöten, die gewachsene Wissensbestände vermitteln, diese jedoch nicht hierar-
chisch über das generative Wissen der Schüler_innen stellen. Ein Balanceakt
im eigenen Tun ist gefordert. Paulo Freire macht mit seinen Alphabetisie-
rungsprojekten einen methodologischen Vorschlag für diesen Balanceakt. Es
handelt sich, so Freire, dabei um eine „utopistische“ Form der Erwachsenen-
bildung, die über das Ablesen und Reproduzieren von Vorgegebenem hinaus-
geht. Dabei verbindet er die Vorstellung einer „kritischen Utopie“ mit der
Hoffnung, Menschen das Sich-Erlesen und Produzieren von Welt zu ermög-
lichen:
„Nicht die naive Utopie, wohl aber die kritische Utopie verlangt, daß
Anklage und Verkündigung historische Praxis sind.“ (Freire 1981: 83)
Dafür ist allerdings eine Vorbedingung notwendig, die im Bildungskontext
sowohl Lernende als auch Lehrende betrifft: Das Prinzip der Neugier muss
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Kategorie
- Medien