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des jeweiligen Wortes angeregt werden. Die visuelle Kodierung wurde von
den Koordinator_innen vorgenommen. Sie hatten weiterhin die Deutungs-
macht über das Wortuniversum (die generativen Wörter und die Bilder) inne,
die in diesem Prozess zusammengeführt wurden. Geleitet von epistemologi-
scher Neugier, bewegten sich die Koordinator_innen dabei im theoretischen
Kontext (Freire 2007: 91). Der Auswahl- und Kodierungsprozess wurde im
gemeinsamen Dialog mit anderen Koordinator_innen vollzogen, um dabei
eine reflexive Ebene aufrechtzuerhalten und zu verhindern, dass die je eigenen
Sichtweisen der einzelnen Koordinator_innen über die generativen Aussagen
der Teilnehmer_innen gestellt werden.
Phase 3 Vom Bild zu den generativen Themen
In einem nächsten Schritt organisierten die Koordinator_innen sogenannte
Kulturzirkel, zu denen die Alphabetisand_innen eingeladen wurden. Innerhalb
der Kulturzirkel wurden die Bilder bei Gruppendiskussionen von den Teilneh-
mer_innen dekodiert und dadurch wieder in Sprache und Wörter umgewandelt.
Anhand eines Bildes, das das generative Wort „Regen“ illustrieren sollte,
wurden beispielsweise im Projekt in Recife im Jahr 1964 Themen rund um die
Wasserversorgung, den Einfluss der Umwelt auf das menschliche Leben,
klimatische Faktoren in der Subsistenzökonomie etc. diskutiert (Freire 1980:
87). In São Tomé 1976 führte die Fotografie, die für das generative Wort
„Volk“ eingesetzt wurde, zum gemeinsamen Reden und Nachdenken über die
Bedeutung der Unabhängigkeit, des Widerstands gegen die Kolonialmacht
und die Rolle der Bevölkerung beim Aufbau eines unabhängigen National-
staates (Freire 1981: 178). So ergaben sich in den Bilddiskussionen generative
Themen, deren umfassende Bedeutung Freire wie folgt beschreibt:
„Ich habe diese Themen ‚generativ‘ benannt, weil sie (was immer sie
auch enthalten und welche Aktion sie auch immer hervorrufen mögen)
die Möglichkeit enthalten, in viele mögliche Themen weiter entfaltet
zu werden, die ihrerseits nach der Durchführung neuer Aufgaben ver-
langen.“ (Freire 1978: 84)
In dieser Phase verließen die Alphabetisand_innen ihre bisherige Objekt-
position und wurden zu den zentralen Subjekten im Alphabetisierungsprozess.
Die Koordinator_innen trugen jetzt nur noch die Verantwortung dafür, dass
in der Gruppe gearbeitet werden konnte, während die Verantwortung für den
thematischen Verlauf und die inhaltliche Entwicklung bei den Gruppenteil-
nehmer_innen lag. Die Vieldeutigkeit der Bilder konnte sich nun in der dialo-
gischen Auseinandersetzung der Gruppe entfalten. Die Alphabetisand_innen
nahmen ihren eigenen Dekodierungsprozess vor und erweiterten den Deutungs-
horizont der Bilder in Richtung ihrer generativen Themen. Zunächst waren
sie von ihrer spontanen Neugier geleitet, aber durch die Auseinandersetzung
mit den Bildern und den Dialogprozessen und Differenzerfahrungen, die sich
daraus ergaben, gelangten sie bald in eine reflexiv-kritische Position. Ihre
spontane Neugier konnte in diesem Rahmen zu einer epistemologischen wer-
den (Freire 2007: 91).
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Kategorie
- Medien