Seite - 204 - in Generative Bildarbeit - Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
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Heute kam ich wieder in die
Situation, ein Foto von jeman-
dem machen zu wollen. Vor-
sichtig habe ich gefragt und
schnell beteuert, dass das
Gesicht eh nicht auf dem Foto
drauf sein wird. Doch siehe da,
ein Lächeln und der Hinweis
darauf, dass er als Straßen-
künstler, drüben im ersten
Bezirk eh auch ständig fotogra-
fiert wird. Trotzdem habe ich
keine Fotos von seinem Gesicht
gemacht, es käme mir irgend-
wie respektlos vor. (73/I/51) Einmal, muss ich zugeben, fühlte ich mich schuldig, weil da
wurde ein Mann in der U-Bahn auf einem Bild festgehalten, da er
sich in einem Fenster spiegelte. Es war keine Absicht und ich
bemerkte es erst davor. Aber ich denke, wenn ich ihn gefragt
hätte, hätte er bestimmt eingestimmt … trotzdem nicht gut. Aber
ich habe schon am Anfang meiner Fotos bemerkt, dass es nicht
so einfach ist, Menschen zu fotografieren, und lange mit mir
gehadert, wie ich das nun anstellen soll. Meine Lösung war, dass
ich einerseits meinen „Hüftschuss“ perfektioniert habe und
andererseits so gut wie nur Menschen [fotografiert] habe, deren
Beine man erkennt. (87/III/11)
Das finde ich spannend, beson-
ders weil ich, auch nachdem ich
mein „potenzielles Modell“
gefragt hatte, Skrupel hatte,
sein Gesicht abzubilden und
ihm deshalb „den Kopf abge-
schnitten“ habe. (73/II/15) Ich wollte nur die hin- und
hereilenden Beine der ganzen
Menschen um mich herum
fotografieren, um somit auch
zu umgehen, dass ich nach
Erlaubnis zum Fotografieren
fragen müsste bzw. sollte. Um
nicht aufzufallen, habe ich
ohne Blitz fotografiert. (74/I/4) Meine Gruppe hat auch
bemerkt, dass nur auf einem
Foto ein Mensch zu sehen
ist, wobei diesem der Kopf
abgeschnitten ist. (73/II/18)
Sehr angesprochen haben mich diesmal die Fotos der Kollegin,
die offenbar während einer privaten Feier (ich könnte mir vor-
stellen zu Silvester) entstanden sind und die ihre Freund_innen
beim Posieren mit Masken zeigen. (88/III/14)
Ich bin in den Stadtpark gegangen und habe einen obdachlosen
Menschen angesprochen. Ich habe ihm erzählt, dass ich ein Foto-
projekt mache, bei dem ich Orte fotografieren will, die sich von
Menschen angeeignet werden und ihn gefragt, ob ich die Bank
neben ihm ablichten darf, die vollgestellt war mit seinen Sachen.
Er hat zustimmend den Daumen gezeigt. (91/II/4)
Abb. 70 Auszüge aus den Forschungstagebüchern: Motivwahl, Menschen anonymisieren
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Kategorie
- Medien