Seite - 217 - in Generative Bildarbeit - Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
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217 Nun stellt sich mir die Frage nach dem Anspruch meines Fotografierens.
Sind meine Bilder moralisierend? Will ich Wirklichkeiten abbilden, um
auf Missstände hinzuweisen, und merke dabei nicht, wie ich eben diese,
durch mein Handeln, reproduziere? (73/II/58)
Beim Fotografieren und auch bei der Auswahl meiner Bilder ist mir aufgefallen, dass Fotos, nur weil
sie keine Menschen zeigen, deshalb nicht unbedingt „eindeutiger“ oder „authentischer“ werden …
ich habe mich bemüht, kulturelle Symbole für gewisse Gefühle (Freundschaft, Gemeinschaft, Freude
usw.) abzubilden, aber habe festgestellt, dass kein Symbol eindeutig ist. Auch hier gibt es viele unter-
schiedliche Sichtweisen, Interpretationsmöglichkeiten, und was für den einen vielleicht Tradition
und Gemütlichkeit bedeutet, heißt für den anderen Klischee und falsche Erwartungen. (88/III/9–10)
Besonders fremd empfand ich einige Bilder von Wien.
Obwohl mir die Stadt sehr vertraut ist, waren auf den
Fotos fast ausschließlich Gegenstände (Fahrräder,
Bänke, Haltestationen) zu sehen, keine Menschen, fast
keine Natur in der Stadt. Dadurch wirkten die Bilder sehr
kühl auf mich, so erlebe ich die Stadt nicht. (59/8) Ein Bild ist mir besonders auf-
gefallen: ein Bild von einer
Straße, die vermeintlich men-
schenleer ist. Lustigerweise war
die Straße wegen einer Demo
abgesperrt und die Stimmung,
die ich damit verband, spiegelte
gar nicht die tatsächliche Situa-
tion wider, eigentlich die kom-
plett konträre. Angeblich war es
sehr laut. (87/III/2)
Und gerade dieses Posieren
auf Fotos ist für mich ein Indiz
dafür, dass die meisten Men-
schen versuchen, soweit es
geht, anonym zu bleiben oder
zu sein und nicht ihre gesamte
Privatsphäre nach außen zu
tragen und somit ihr wahres
Ich nicht zu zeigen. (79/III/2) Ich stellte fest, dass Emotionen bei Menschen auf Fotos
[...] sehr schwer umzusetzen sind. Denn einerseits ist bei
fremden Menschen der Moment der Emotion oftmals
schon vorbei, bevor es gelingt, den Fotoapparat anzuset-
zen. Aber auch bei befreundeten Menschen ist es selbst
bei gestellten Bildern nicht wirklich einfach, die jeweilige
Emotion so festzuhalten, dass die Idee, die dahinter
steckte, auch tatsächlich zum Tragen kommt. (78/II/17)
Fotos sollen meiner Meinung nach Situationen aufzeigen und
darauf aufmerksam machen, dass es diese Schicksale gibt und
dass Menschen nur zusammen etwas an diesen Situationen
ändern können. Wo ist allerdings die Grenze zwischen objektiver
und subjektiver Darstellung? (83/III/37)
Vor allem in der Entwicklungszusammenarbeit werden überwiegend Opfer
dar
gestellt; Menschen, die handlungsunfähig und fremdbestimmt sind. Dieses
Bild entspricht jedoch nicht der Realität. Um der Gesellschaft ein fundiertes
und authentischeres Bild der Problematik zu vermitteln, muss ein Gesamtbild
geschaffen werden, welches mehrere Perspektiven zeigt und die Menschen
nicht nur als Objekte darstellt. Es dürfen nicht nur Klischees und Stereotypen
wiederholt werden, welche Mitleid erregen, sondern es muss auch zum Selbst-
aktiv-Werden angeregt werden. Dafür müssen Zusammenhänge und Lebens-
welten vermittelt werden. Dies ist ein hoher Anspruch an Bildarbeit, ohne diesen
werden die „Menschen des Südens“ jedoch nur wieder zu Objekten, Unter-
worfenen und Abhängigen, Minderwertigen stilisiert, wie schon zu Zeiten des
Kolonialismus. (86/III/39)
Abb. 81 Auszüge aus den Forschungstagebüchern: Abbild/Wirklichkeit
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Kategorie
- Medien