Seite - 218 - in Generative Bildarbeit - Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
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Bei den Bildern von den anderen hat mir diesmal ein gesamter
Bilddialog einer StudienkollegIn sehr gefallen. Sie hat in ihrem
Dialog das Ich und das Fremde dargestellt und es wirkte auf allen
Bildern so, als würde das Fremde und das Ich immer gemeinsam
existieren. Das Fremde in einem Selbst. (87/II-III/6)
Eigentlich ein spannender Prozess der Selbstreflexion, aber eben auch ein verfängliches Unter-
fangen. Schließlich können sich die Fotografierten nicht „verteidigen“, wir können, was wir wollen
von ihnen annehmen und „in sie hinein“ interpretieren. Wenn man sich das im Bewusstsein behält,
kommt bei der Betrachtung von Menschen auf Bildern wohl eher eine Reflexion der eigenen Wahr-
nehmung heraus. Wenn wir über Leute auf Bildern reden, reden wir deshalb wohl eher über uns
selbst. Aber das tun wir wahrscheinlich auch, wenn wir über Orte auf Bildern sprechen, nur dass
die Betrachtungen vielleicht noch abstrakter werden können. (73/I/31)
Im Laufe des Seminars habe ich mich einfach immer öfter gefragt, wer ich eigentlich bin, kenne ich
mich selbst, was für „fremde“, verborgene Seiten gibt es in mir und wie sehen mich Andere? Wie
werde ich wahrgenommen und was ist es, was mich in anderen Menschen an mich selbst erinnert?
Das wollte ich mit meiner diesmaligen Fotoarbeit zum Ausdruck bringen. Was dabei lustig oder
spannend ist, ist, dass ich durch das Kennenlernen neuer Methoden, Inhalte, Menschen und einer
für mich neuartigen Form der Praxis innerhalb des Studiums mehr über mich selbst erfahren habe
und begonnen habe, meine ganz eigene „Kultur“ zu reflektieren. (86/III/20–21)
Der/die/das Andere ist eben
das große Geheimnis und es ist
jedes Mal eine große Herausfor-
derung, sich dem Anderen zu
nähern. Ich denke schon, dass
es immer eine gewisse Abgren-
zung geben muss. Letztlich
hängt der Grad der Abgrenzung
immer von mir selbst ab, das
zeigt sich auch in der Fotogra-
fie, eine völlige Verschmelzung
ist nicht möglich. (59/13–14) Und tatsächlich: Wenn ich davon ausgehe, dass ich als Subjekt
nur einmal existiere, wie schockierend ist es, dieses selbe Ich in
(scheinbar) direkt abgebildeter Form vor mir zu haben? Als unver-
änderbar und damit eigen: mir nicht gehorchend, wie es mein
Spiegelbild und mein Schatten machen müssen (mein Spiegelbild
bewegt sich, weil ich es von mir aus will; das Foto-Bild bewegt
mich, ohne dass ich es will, es ist Ich ein zweites Mal: ein_e
Doppelgänger_in). Die Fotografie macht es notwendig, mich als
historisch zu begreifen und mir selbst [...] gegenüberzutreten.
(91/III/1–2)
Und was wächst daraus? Ein Öffnen in verschiedenster Hinsicht, würde ich sagen –
ein Mich-Öffnen und eine intensivere Wahrnehmung von Welt(en), Leben, ein
Mich-Vertiefen in Welt(en), ein Öffnen, Erweitern von Wahrnehmung – meiner
und, ich glaube, manchmal auch der anderer Menschen ein Türen-Öffnen –
(Er-)Öffnen von neuen Perspektiven, Möglichkeiten – auch durch eben jenen
Kontakt zwischen verschiedenen Welten. (66/I/26–31)
Damit möchte ich darstellen, dass hinter Türen und Wänden
sowie Mauern einerseits das Fremde verborgen ist und das Unbe-
kannte, wovor wir manchmal Angst haben und uns schützen
wollen, andererseits aber auch ganz viel Neues und Interessantes,
was uns auch uns selbst anders sehen lässt. Durch das Andere
erkenne ich also auch mich anders im Spiegel. (86/II/21)
Abb. 82 Auszüge aus den Forschungstagebüchern: Selbst-/Fremdwahrnehmung
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Kategorie
- Medien