Seite - 223 - in Generative Bildarbeit - Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
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223 Die Ambivalenzen, die sich bei der multiplen Fallstudie im fotografischen
Spannungsfeld ergeben, werden im weiteren Prozess immer wieder thematisiert
und führen zu Fragen nach dem Wechselverhältnis von Abbild und Wirklich-
keit, von Selbst- und Fremdwahrnehmung, von Raum und Gesellschaft und
von Subjekt- und Objektpositionen. Die Basis für diese Reflexionsinhalte bilden
Fragen, die sich beim Entwickeln und Umsetzen von Umgangsformen in
Grenzsituationen ergeben: Wie wird das eigene Denken und Handeln beein-
flusst, wenn sich Grenzen immer wieder verschieben und nicht von einer
Wahrheit ausgegangen werden kann? Was passiert in Grenzsituationen,
wenn alle Beteiligten ihre unterschiedlichen Sichtweisen auf Bestehendes, auf
wechselnde Bedingungen und auf fortwährende Veränderung entfalten? Was
bewirkt die Erkenntnis, dass in Grenzsituationen immer wieder neue Diffe-
renzen und Ambivalenzen produziert werden? Inwiefern kann Vieldeutigkeit
in Grenzsituationen nicht länger als Hindernis, sondern als Möglichkeit für das
gemeinsame Arbeiten in Situationen kultureller Differenz betrachtet werden?
Vorerst ist die fotografische Arbeit der Teilnehmer_innen von der Vor-
stellung geprägt, dass die Fotografie als Abbild-gebendes Verfahren eindeutige
Geschichten erzählen könnte. Es kommt der dringende Wunsch zum Aus-
druck, das, was sich vor der Kamera befindet, auf „echte“, „ehrliche“ und
„authentische“ Weise abzubilden, darzustellen und zu vermitteln. Durch eine
kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Abbild und
Wirklichkeit im Rahmen der Generativen Bildarbeit ergibt sich bei den Teil-
nehmer_innen der multiplen Fallstudie ein Differenzierungssprozess in Bezug
auf die eigenen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Beschreibungen und jene
der Anderen. Es wird dabei über die Möglichkeiten und Grenzen von Bild-
und Erzählräumen nachgedacht, die einerseits gewisse Dinge zu sehen geben,
jedoch andere im Verborgenen lassen. Es wird diskutiert, inwiefern „Wirk-
lichkeit“ abgebildet werden kann und wie durch die Annahme, es sei möglich,
Wirklichkeit abzubilden, diverse Bild-gebende Verfahren bei Bedarf zur
Favorisierung einer gewissen Wirklichkeit instrumentalisiert werden können.
Es wird ins Bewusstsein gerückt, dass je nach Kontext das Beherrschen ver-
schiedener Lesarten notwendig ist, um mit eindimensionalen Darstellungen
entsprechend umgehen zu können und dabei dennoch verschiedene Interpre-
tationsspielräume zu nutzen. Dies führt zur Auseinandersetzung mit fixierten
Ansichten und Stereotypen. Es wird thematisiert, dass gewisse Erzählungen
oder Meinungen an gewissen Positionen im sozialen Raum entstehen und
als Ausschnitte einer gewissen Wirklichkeit betrachtet werden können, die
Gesamtheit einer Wirklichkeit jedoch nicht repräsentiert werden kann.
Selbst- und Fremdbilder ergeben sich in der multiplen Fallstudie durch
die intensive Auseinandersetzung mit den eigenen Bildern und jenen der
Anderen. Auf der Metaebene bezeichnen Selbst- und Fremdbilder imaginierte
Bilder, die sich als gedankliche Konstrukte über dem Eigenen und dem Anderen
formieren. Die Auseinandersetzung mit dem Wechselverhältnis von Selbst-
und Fremdwahrnehmung in Bezug auf konkrete und imaginierte Bilder fördert
den Prozess der Reflexion über eigene Grenzen und jene der Anderen. Es geht
bei dieser Auseinandersetzung vorrangig um das Erkennen des Wechsel-
verhältnisses zwischen dem eigenen Selbst und dem Fremden. Durch dieses
Erkennen kann das Nachdenken und Sich-Eindenken in die Seinswelt der
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Kategorie
- Medien