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6.1 FOTOGRAFISCH-VISUELLE GRENZSITUATIONEN
„In Grenzsituationen ist die Existenz von Menschen mitgesetzt, denen
diese Situation direkt oder indirekt dient, und von solchen, deren Exis-
tenzrecht durch sie bestritten wird und die man an die Leine gelegt hat.
Begreifen letztere eines Tages diese Situation als Grenze zwischen Sein
und Menschlicher-Sein und nicht mehr als Grenze zwischen Sein und
Nichts, dann beginnen sie ihre zunehmend kritischen Aktionen darauf
abzustellen, die unerprobte Möglichkeit, die mit diesem Begreifen ver-
bunden ist, in die Tat umzusetzen.“ (Freire 1978: 86)
Paulo Freire beschreibt als Grenzsituation einen Zusammenhang, in dem sich
Menschen gemeinsam in einer Situation befinden, jedoch in völlig unter-
schiedlichem Bezug zu dieser Situation und zueinander stehen. Die einen kön-
nen aus der Situation schöpfen und wachsen, die anderen dienen lediglich der
Situation, aber nicht sich selbst. Dementsprechend haben die Menschen, die
sich gemeinsam in einer Grenzsituation finden, völlig unterschiedliche Tätig-
keiten, Rollen und Positionen inne. Je nachdem, wer wo steht, gestalten sich
ihre Beziehungen zueinander. Im folgenden Abschnitt stelle ich mit dem
Begriff der fotografisch-visuellen Grenzsituation die Ergebnisse meiner For-
schungsarbeit in Bezug zu Theoriesträngen im Bereich der visuellen Kultur.
6.1.1 DAS BESTÄNDIGE IN DER VISUELLEN ZEITENWENDE
Betreiben Menschen Fotografie, sind sie zusammen in verschiedene Aktivitäten
im fotografischen Spannungsfeld eingebunden. Auf den ersten Blick sind zumin-
dest drei verschiedene Tätigkeiten offensichtlich: Die Menschen fotografieren,
posieren und schauen sich Fotos an. Es geht also gleichermaßen um produzie-
rende, darstellende und wahrnehmende Tätigkeiten. Roland Barthes zufolge
werden Menschen zu operator (Fotograf_in), spectator (Betrachter_in) und
spectrum (Fotomotiv) (Barthes 1985: 18). Dabei nehmen sie gewisse Rollen und
Positionen ein; je nach Position blicken sie aus verschiedenen Perspektiven auf-
einander. Den grundsätzlichen Wesensunterschied von operator und spectator
veranschaulicht Roland Barthes, indem er auf den Unterschied zwischen den
physikalischen und den chemischen Eigenschaften der Fotografie verweist:
„Mir schien, daß die PHOTOGRAPHIE des spectator ihrem Wesen nach
auf die, wenn man so sagen kann, chemische Enthüllung des Gegen-
stands zurückging (dessen Strahlen mit Verzögerung zu mir gelangen),
und daß die PHOTOGRAPHIE des operator im Gegensatz dazu durch das
von der Verschlußöffnung der camera obscura ausgeschnittene Bild
bedingt war.“ (ebd.)
Den operator setzt Barthes somit in Bezug zur physikalischen Beschaffenheit
der Fotografie. Er vermutet, dass diese Beziehung irgendwo zwischen der
Person des operator und dem kleinen Loch liege, durch das Licht in die Kamera
einfallen kann (ebd.: 17). Die hier angesprochenen physikalischen Eigen-
schaften der Fotografie wurden bereits um 980 n. Chr. von einem arabischen
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Kategorie
- Medien