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235 Erst durch das Erkennen und Verstehen stereotyper Diskurse könne man
binäre Bewertungsmuster überwinden. Bhabha spricht nicht explizit von der
Fotografie, doch lese ich seine Ausführungen als Anregung, sich auch beim
Fotografieren auf die Beweglichkeit von Bildern einzulassen und anhand der
Eigenarten des fotografischen Spannungsfeldes die eigene Geschichtlichkeit
zu hinterfragen und dominante Diskurse über das Verhältnis von Eigen und
Fremd aufzubrechen (Castro Varela/Dhawan 2005: 85), das Fremde im Eige-
nen anzuerkennen (Stöger 2003). Es ist nach Bhabha nicht entscheidend,
gewisse Bilder als richtig, authentisch oder falsch zu bewerten; es geht weni-
ger um das, was auf der Oberfläche eines Fotos abgebildet ist, als vielmehr um
das Erkennen von Blickregimen und Beziehungen, die mit der Begegnung
von Andersheit und Fremdheit einhergehen. Das fotografische Spannungsfeld
bietet ein entsprechendes Übungs- und Forschungsfeld dafür, da es sich als
undiszipliniertes Feld über die unterschiedlichsten Lebensbereiche hinweg
erstreckt (Abel/Deppner 2013: 10). Durch bewusst gesetzte Rollenwechsel,
Interaktionen und Erkenntnisprozesse können einerseits Fixierungsprozesse
identifiziert und andererseits Subjektivierungsprozesse angeregt werden.
6.2 FOTOGRAFISCH-VISUELLE GRENZARBEIT
Der Begriff Grenzarbeit bezeichnet das gemeinsame Arbeiten von Menschen,
die in verschiedenen Lebenswelten, Wissens- und Erkenntniskulturen leben,
jedoch durch geteilte Phänomene und Problemstellungen miteinander ver-
bunden sind. Es geht hier um ein Arbeiten an den Grenzen des Eigenen und
des Anderen, um diese geteilten Phänomene und Problemstellungen zugäng-
lich, beforschbar und transformierbar zu machen. Mit dem Begriff fotogra-
fisch-visuelle Grenzarbeit beziehe ich mich hier konkret auf die Generative
Bildarbeit und das gestalterisch-reflektierende und dialogische Arbeiten der
Teilnehmer_innen im Rahmen meiner multiplen Fallstudie. Basierend auf den
Ergebnissen, erläutere ich, inwiefern fotografisch-visuelle Grenzarbeit dazu
dienen kann, im Sinne Freires eine „[…] Grenzsituation zu transzendieren, um
zu entdecken, daß jenseits dieser Situation — und im Widerspruch zu ihr —
eine unerprobte Möglichkeit liegt.“ (Freire 1978: 84–85).
6.2.1 STUDIUM UND PUNCTUM ALS GRENZARBEIT
Unter dem Begriff bzw. Stichwort visual literacy25 wächst im Feld der For-
schung zur visuellen Kultur das allgemeine Einverständnis darüber, dass es
notwendig sei, sich gewisse Kompetenzen im Umgang mit Bildern systema-
tisch anzueignen. So betont W. J. T. Mitchell, dass es nicht nur Basisfähig-
keiten brauche, um Bilder wie verbal-sprachliche Texte lesen zu lernen. Er
bezeichnet visual literacy als “connoisseurship: rich, highly cultivated, and
trained experiences and techniques of visual observation” (2009: 13–14). Ein
reflektierter Umgang mit Bildern setzt demnach entsprechende Techniken/
Methoden/Training darin und Erfahrung damit voraus.
25 Vgl. dazu den Sammelband zu „Visual Literacy“ (Elkins 2008).
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Kategorie
- Medien