Seite - 237 - in Generative Bildarbeit - Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
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237 Durch den Akt des Fotografierens treten die beteiligten Menschen in Bezie-
hung zueinander, Fotos werden fĂŒr unterschiedlichste Zwecke gemacht,
verwendet, kombiniert und verÀndert. Die Fotos entfernen sich dabei immer
weiter von ihrem Entstehungskontext. Das studium aufseiten der Betrach-
ter_innen wird in wachsender Distanz zum/zur Fotograf_in vollzogen. Was
als punctum erkannt wird, wird nicht in Zusammenhang mit den Bildprodu-
zent_innen gedeutet. Indem ein Foto in unterschiedliche Verwendungskon-
texte gelangt, werden ihm immer wieder neue Deutungsebenen zugefĂŒhrt
, die zu mentalen bzw. imaginierten Bildern in den Köpfen der Menschen
beitragen. Ralf Bohnsack betrachtet diese mentalen Bilder als zentrale Quelle
sozialer Lernprozesse, da âsoziale Situationen oder Szenerien [âŠ] in wesent-
licher Hinsicht bildhaft im GedĂ€chtnis sedimentiert sind.â (2013: 66). Dabei
stĂŒtzt er sich auf Alfred SchĂŒtz, der die Imagination hypothetischer Sinnvor-
stellungen als Voraussetzung fĂŒr Symbol- und Typenbildung beschreibt (1971:
4). Bildhaftigkeit sei demnach der Symbolik der Sprache vorgeordnet â Ideen,
kreative GedankenstrÀnge und Szenarios vollziehen sich im Medium mentaler
Bilder und Imagination (Bohnsack 2013: 66). Anhand der Ergebnisse der
multiplen Fallstudie stellt sich heraus, dass der Zusammenhang von vernunft-
geleitetem studium und intuitiv-evoziertem punctum als wertvolle Bruchstelle
im gemeinsamen Bilddialog gesehen werden kann, die sich mit Bernhard
Waldenfels (1999) auch als âSpalt zwischen Sehen und Wissenâ bezeichnen
lĂ€sst. Dieser Spalt entstehe durch âwechselnde Ordnungen, die eine eigentĂŒm-
liche Zerstreuung der Sichtbarkeit zur Folge haben.â (ebd.: 102). Sich auf das
Fremde einzulassen, fordert heraus; die âZerstreuung der Sichtbarkeitâ kann
als Ungewissheit im Bezug auf Normen im sozialen Miteinander verstanden
werden. Was fremd ist, besteht auĂerhalb des eigenen Bereichs, es besteht
in dem, was anderen gehört, und es zeichnet sich durch eine gewisse Anders-
artigkeit aus (Waldenfels 1997: 26). An dieser Bruchstelle kommen die Viel-
deutigkeit und die Ambivalenz fotografischer Bilder zum Ausdruck. Es
entsteht Reibung zwischen Eigenem und Anderem. Kulturelle Differenzen
zeigen sich, was fremd erscheint, bringt Beunruhigung mit sich, was nach
Waldenfels darin grĂŒndet, dass das Fremde an sich unzugĂ€nglich ist:
âWenn wir jedoch von einem fremden Blick ausgehen, der uns aus der
Ferne trifft, so verwandelt sich der eigene Blick in einen antwortenden
Blick, der nicht im eigenen beginnt und auch nicht in einem gemein-
samen Medium zur Ruhe kommt. [âŠ] Dem Bild , das einem Blick-
geschehen ausgesetzt ist, wohnt eine âUnruhâ inne, die im Blickfeld
Spannungen erzeugt und wachhĂ€lt.â (1999: 147)
Im fotografischen Spannungsfeld können die diversen Ambivalenzen, die sich
zwischen den Beteiligten ergeben, als Unruhepole betrachtet werden. Das
Lernen und Forschen mit und durch Bilder im Bilddialog kann demnach als ein
Prozess begriffen werden, der sich vor allem durch das Erfahren von verschiede-
nen visuellen Kulturen als heterogene kulturelle Komplexe vollzieht (Schade/
Wenk 2011: 9). Es erscheint nicht ausreichend, den Erkenntnisprozess allein
zwischen Bild und Mensch zu verorten. Es geht darĂŒber hinaus um die FĂ€hig-
keit, das Beziehungsgeflecht im fotografischen Spannungsfeld wahrzunehmen,
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, SituationalitÀt, ReflexivitÀt
- Kategorie
- Medien