Seite - 256 - in Generative Bildarbeit - Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
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mit spontaner und epistemologischer Neugier (Freire 2007: 90–91) hinaus-
zutreten und tatsächlich gemeinsam mit den unterschiedlichsten Menschen
im Feld zu forschen. Jedoch mangelt es nach wie vor an Möglichkeiten dazu
bzw. werden Forschungssettings gesetzt, die das Entwickeln gemeinsamer
Interaktionsformen und damit generatives Grenzarbeiten der unterschied-
lichen Menschen im Feld erst gar nicht zulassen — dies wird immer wieder
durch ein vorab definiertes Erkenntnisinteresse und einem darauf basieren-
den, meist etablierten, jedoch starren Forschungsdesign und, vor allem, durch
einen grundsätzlichen Mangel an Zeit verhindert. Meine utopistische For-
schungspraxis geht mit der Prämisse einher, dass Zeit keine Mangelware ist,
wenn es um gemeinsames Forschen geht. Ich schlage vor, Generative Bildarbeit
als integrativen methodologischen Rahmen in transformativen und trans-
disziplinären Forschungssettings zum Einsatz zu bringen. Dies könnte sich
wie folgt gestalten:
Alle Beteiligten eines transdisziplinären Forschungsprojekts — die
Forscher_innen aus diversen Wissenschaftsdisziplinen und jene Menschen,
die im Forschungsfeld eine gewisse Rolle einnehmen bzw. einnehmen wollen —
würden sich mit Kameras im Forschungsfeld, aber auch im eigenen Alltag
bewegen und für eine gewisse Zeit zum Forschungsthema fotografieren. Sie
würden mit der Kamera Altbekanntes festhalten, aber auch Dinge neu wahr-
nehmen. Nach einiger Zeit würden sie sich mit den anderen Beteiligten treffen
und im Rahmen einer moderierten Bilddialogrunde zeigen, was sie mit der
Kamera gefunden haben. Jede_r hätte Gelegenheit, die eigenen Bilder gemein-
sam mit den anderen Beteiligten zu betrachten, zu erfahren, was die Anderen
in seinen_ihren Bildern lesen, aber auch umgekehrt, den Anderen mitzuteilen,
was sie_er in den eigenen Bildern entdecken kann. Die Fotos würden aus
völlig unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Durch das gemein-
same Gespräch würden sich für die Fotograf_innen und die Betrachter_innen
Zugänge eröffnen, die zuvor noch nicht denkbar waren. Anhand der Fotos und
der diversen Lesarten und Narrative, die im Bilddialog zutage treten, würde die
Gruppe ein gemeinsames generatives Bild erschließen, das die unterschied-
lichsten Facetten zum Forschungsthema beinhaltet. Die generativen Themen,
die sich darin zeigten, könnten das gemeinsame Forschungsfeld abstecken
bzw. als Wegweiser für das weitere gemeinsame Forschen dienen. Damit würde
sich der transdisziplinäre Forschungsprozess von Beginn an durch Wissens-
generierung und -integration gestalten. Mithilfe ihrer spontanen und epistemo-
logischen Neugier (ebd.: 90–91) würden in einem solchen Prozess alle Betei-
ligten den eigenen Bezug zum Forschungsprojekt Stück für Stück erforschen,
mit den Anderen diskutieren und hinterfragen. Ein bewusstes, auf den kon-
kreten Gruppenkontext bezogenes Recherchieren und Erforschen der Dinge,
Geschichten und Themen, die das Forschungsfeld ausmachen, wäre der
Aus
gangspunkt eines gemeinsamen Erkenntniswegs. Die unterschied
lichen
Sichtweisen, die im Bilddialog sichtbar würden, sowie die Selbst- und Differenz-
erfahrung, die sich daraus ergäbe, würden durch professionelle Moderation
im Gruppenprozess ausgelotet und verhandelbar. Das Fotografieren könnte
im Verlauf des Gesamtprozesses wiederholt werden. Wie sich die Menschen
und das Thema im Verlauf entwickeln, welche Themen aus dem Blick geraten
und welche sich neu eröffnen — das könnte durch eine weitere Bilddialogrunde
Generative Bildarbeit
Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Titel
- Generative Bildarbeit
- Untertitel
- Zum transformativen Potential fotografischer Praxis
- Autor
- Vera Brandner
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5008-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 276
- Schlagwörter
- Forschendes Lernen, Fotografische Praxis, Methodik, Generative Bildarbeit, Grenzarbeit, Kulturelle Differenz, Praxeologie, Selbstversuch, Reflexive Grounded Theory, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmungen, Situationalität, Reflexivität
- Kategorie
- Medien