Seite - 27 - in Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
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daß sie nur das Interim bedeutenwürde, denn er hat jetzt schon die vollen
Dienstjahre undwird die schwere Last, die grade auf demWienerNeuger-
manistenliegt,gewißnichtallzulangetragen,vielmehrdenRufnachWienals
ehrenvollenAbschlußseinerKarrierebetrachten.UndnacheinpaarSemester
wird sichwohl eine gute jungeKraft leichter finden als es jetzt der Fall ist.71
Die vonWettstein geäußerte Befürchtung, dass Kraus gegenüber August
Sauer ablehnend gesinnt sein könnte, bestätigte sich nach dessen Amts-
antritt im Sommersemester 1913 in vollemMaße. Bereits in der ersten
Nachfolgesitzung,dererbeiwohnte,am3.Mai1913,tratKrausgegenüber
seiner durchweg unentschiedenenKollegenschaft sogleich alsWortführer
auf.AusseinerAbneigunggegendenbisherigenFavoritenSauermachteer
keinenHehl und „wünschte, [ihn] in demVorschlage nicht zu nennen“.
Diese Einschätzung untermauerteKraus laut Sitzungsprotokollmit einer
unerwartet drastischen und umfassenden wissenschaftlichenDiskreditie-
rung Sauers:
In der Jugend hat er einige hübsche Abhandlungen veröffentlicht, späterhin
nicht eigentlich vielmehr vonBedeutung.
Er ist Herausgeber und Bibliograph. Als Herausgeber hat er eine weitum-
fassende Thätigkeit entfaltet – außer Grillparzer und Stifter noch sehr viel
Andres. Als Bibliograph werthvoll, in seinem „Euphorion“, wie auch im
„Goedeke“.VielArbeitsenergie u. Fleiß.Aber es fehlt ihmdasMethodische,
MethodenAndrerahmtersklavischnach,oftwosiekeineBerechtigunghaben
[.] Spezialwörterbuch zuStifter ist in dieserRichtung voll desGuten zu viel.
AehnlichesgiltauchvonandernArbeitenSauers:historisch-kritischeAusgabe
Stifters, […]u.s.w.StoffanhäufungohnedisciplinierendeBeschränkungistda
charakteristisch.DieSichtungundBearbeitung fälltdannAnderenzu(cf.die
Grillparzer-Gespräche).Der„Euphorion“ ist [!] inDeutschlandkeinenguten
Ruf,weiler3oder4Malsovielenthält,wieerenthaltensollte–Hypertrophie
des Inhalts.Dies auch für die Schülerarbeiten sehr bedenklich.Massenhafte
ProduktionohnegehörigeAusreifung.AuchandreThätigkeitennochnehmen
die Arbeitskraft Sauers in Anspruch – eine Vielgeschäftigkeit, wodurch die
ernsteVertiefungunmöglichwird.Dabei hält er sichdoch einigePagen.Mit
Metrik hat er sich nie beschäftigt, nie darüber gelesen. Ein Interpretations-
colleg hat er kaum jemals gelesen. Esmangelt ihm an innerster ästhetischer
Bildung, er ist keinHumanist imhöchsten SinndesWortes.
Aber auch für die drei anderen Genannten konnte sich Kraus nicht er-
wärmen.Vielmehrhatteereine fürdieWienerVerhältnisseüberraschende
Lösungparat, der zufolge „[e]ine einzige Persönlichkeit […] allenAnfor-
derungen, die in diesem Falle zu stellen sind“, genüge: „und zwar Prof.
71 Brief vonRudolfMuchanCarl vonKraus (Fragment),o.D. [EndeJänner1913];
BSBMünchen,NachlassCarl vonKraus,Krausiana I.
I.2. Der Bruch 27
Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Titel
- Germanistik in Wien
- Untertitel
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Autor
- Elisabeth Grabenweger
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 290
- Schlagwörter
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Kategorie
- Lehrbücher