Seite - 47 - in Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
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seinenVorlesungen undÜbungendie ganzeWeite des neuen, philosophisch
undkulturhistorisch unterbautenBlickfeldes.147
Josef Nadler, der von 1931 bis 1945 die Wiener neugermanistische
Lehrkanzel innehatte,aufdenBrecht jedochnichtvielhielt,148bemerkte in
seinemNachruf, dass Brecht, der „zwischen zwei wissenschaftlichenGe-
nerationen“ anzusiedeln sei, „in der glücklichen Lage [war], die ältere zu
beerben und die jüngere anzuleiten“: „Die Schule, die er genossen hat,
befähigte ihn, dasVertrauen der älterenGeneration zu rechtfertigen und
das der jüngeren zu gewinnen.“149
Brecht selbst äußerte sich öffentlich nie zu dieser innerfachlichen
Methoden- undGenerationenproblematik, in einemBrief an seinen spä-
terenWienerNachfolgerPaulKluckhohnreflektierteer1922jedochseine
Herangehensweise:
Ich fasse die Litt.Gesch. als Geistesgeschichte aber ebenso sehr als Kunstge-
schichte auf, d.h. als eine Entwicklungsgeschichte geistiger, ich betone fast
nochmehr,auchseelischerWerte inGestaltungen[…];dahergehe ich immer
vomKunstwerk aus und gehe vondort zumDichter als demHervorbringer
und als demTräger der oder der Zeitströmung.Weder also istmir die Bio-
graphie das erste wieMinor, noch sindmirDichtungen nur Entwicklungs-
dokumente einerZeit, analogphilosoph.GedankenbildgenabstrakterNatur,
wienichtseltenbeiDilthey.BeiWalzelwarenoftdieDichternichtviel [mehr]
als (notwendig) schlechte Philosophen, als bildlicheMenschen, die sie sind.
AufdieseWeiseverbindetsichmirdergeistesgeschichtlicheStandp.miteinem
ästhetisch-philologischem.Und diesen letzterenmöchte ich durchaus nicht
missen, schonwegendes solidenFundamentes der philologischenEinzelun-
tersuchung.150
BrechtverstandalsodieDichtungexplizit alsKunstwerk, vondemes stets
auszugehengalt.Dabei ließen sich seinesErachtens sowohldasEinzel- als
auchdasGesamtwerk alsAusdruckderunverwechselbarenPersönlichkeit
desDichters lesen, der zusammenmit seinemWerkwiederumdieMög-
lichkeit kultur- und geistesgeschichtlicher Rekonstruktionen bot. Diese
geistesgeschichtlichen Erkenntnissemüssten aber auf derGrundlage phi-
lologischerDetailstudien erfolgen.Damit nahmBrecht einePosition ein,
die die philologische Herangehensweise eines JakobMinor genauso zu
integrieren vermochtewie philosophische, kunsttheoretische und formal-
147 Kindermann:WaltherBrecht [Nekrolog] (1950), S. 413.
148 Vgl.Kap. I.4.
149 Nadler:WaltherBrecht [Nekrolog] (1952), S. 375.
150 Brief von Brecht an Kluckhohn vom 15. Juli 1922; DLAMarbach, Bestand:
DeutscheVierteljahrsschrift.
I.3. Philologie undmoderate Geistesgeschichte 47
Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Titel
- Germanistik in Wien
- Untertitel
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Autor
- Elisabeth Grabenweger
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 290
- Schlagwörter
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Kategorie
- Lehrbücher