Seite - 50 - in Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
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rakterisierte seinen verehrten Lehrer 1926 in einemBrief an BennoRei-
fenberg, denFeuilletonchef derFrankfurter Zeitung, folgendermaßen:
Ich habe etwasUnerhörtes erlebt:Hören Sie:Mein lieber Professor derGer-
manistikDrBrecht, der jetzt nachBreslau geht, hatmir schon6 Jahre nicht
geschrieben.Als ichnochseinSchülerwar,warichdeutschnational,wieer.Ich
glaubenatürlich,daßerinfolgemeinerPublikationenmichausseinemHerzen
gewischthat. Ichleseaber imKaukasus ineineraltenZeitung,daßer50Jahre
alt geworden ist.Gratuliere ihm.Undheute schicktmirdieF.Z. seinenBrief:
Er schicktmir seine Photographie. 1912/13164war ich sein Schüler. Er sieht
genausoaus,wiedamals.UnderhatmichsoebeneinerPreisstiftung für junge
Autoreneingereicht.Erhatallesvonmirgelesen.Er ist ebenbeimAufräumen
undpackt–meineerstenArbeiten,die ichnoch imgermanistischenSeminar
geschriebenhabe.Erpackt sie ein!ErnimmtsiemitnachBreslau!Erhatmich
damals fürStipendieneingegebenundheute fürPreise.Eindeutschnationaler
Mann!SohneinesProfessors,SchwiegersohneinesProfessors,wareinFreund
vonRoethe!Das ist ein deutscher Professor.165
Mit dem soziologischen Scharfblick eines Autors, der auch die familiäre
KomponenteuniversitärerAufstiegsmechanismenmitbedenkt, zeigte sich
Roth begeistert und gleichzeitig verwundert über dasWohlwollen eines
Mannes, der seine deutschnationale Gesinnung auch in der Lehre zum
Ausdruck brachte, diese aber nicht –wie beiGustavRoethe – als kultur-
politisches Hauptmovens fungierte. Tatsächlich dürfte sich Brecht ohne
Schwierigkeiten indiekonservativeunddeutschgläubigeGrundstimmung
unter den österreichischenGermanisten eingeordnet haben, ohne jedoch
den zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Schärfe gewinnenden Antisemi-
tismusmitzutragen.166
Das Selbstverständnis der österreichischenDeutschen Philologie äu-
ßerte sich in den 1920er Jahren weniger in explizit programmatischen
Texten als inBerufungskommissionen167 sowieVorwortenundFestreden.
Sohießes1925 inderEinleitungzurFestschriftdesWienerAkademischen
Brecht war, den er häufig besuchte. Er zeigte ihm dann seineGedichte, die der
Professor sehr lobte.“Wittlin: Erinnerungen an Josef Roth (1949), S. 49–52.
164 Joseph Roth irrt sich im Jahr. Brecht kam erst im Sommersemester 1914 nach
Wien.
165 Brief vonBrecht anBennoReifenberg [vonOktober 1926]; zit. n. Eckert/Bert-
hold: JosephRoth (1979), S. 45.
166 ZurpolitischenAusrichtungderWienerGermanistenimspäten19.undimersten
Dritteldes20.Jahrhundertsvgl.Kap.I.4.undKap.IV.1.;darüberhinausMichler:
Lessings „Evangelium der Toleranz“ (2003);Meissl: Germanistik inÖsterreich
(1981).
167 ZuBrechts (politischem)Vorgehen in dieserHinsicht vgl.Kap. I.4.
I. Die Verfasstheit derWiener
Germanistik50
Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Titel
- Germanistik in Wien
- Untertitel
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Autor
- Elisabeth Grabenweger
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 290
- Schlagwörter
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Kategorie
- Lehrbücher