Seite - 52 - in Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
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dichtband von1882173 angedeihen ließ, ein zweites „unsichtbaresKunst-
werk [hervorbrachten],das inundzwischendeneinzelnenGedichten sein
Leben führt“174.DabeigingBrechtdavonaus,dassdurchdenkunstvollen
Aufbau des Lyrikbands das einzelne Gedicht „an spezifischer Schwere“
gewann, da es in Korrespondenz zu den unmittelbar nach- und vorge-
reihten Gedichten modifiziert erschien und darüber hinaus sein „Sinn
innerhalb des Ganzen“ hinzukam, der den „Einzelsinn“ noch unter-
strich.175Nicht um die Genese einzelner Gedichte, nicht um eine rein
formalistische oder biographistische Lesart war Brecht in seiner Kompo-
sitionsanalysebemüht, sondernumdenAusgleichzwischenzeitgenössisch
widerstreitendenHerangehensweisen.ZuseinerAuffassungderDeutschen
Philologie heißt es in derVorrede desBuches:
[D]asWerk ist und bleibt die Hauptsache, worauf es ankommt; denn des
Werkes wegen beschäftigen wir unsmit demDichter. Es sollte kaumnötig
sein, das noch zu sagen. Aber das kann nicht ausschließen, daßwir, wie na-
türlich, auchmit unserer sonstigenKenntnis der Persönlichkeit desDichters
wiemitder seineranderenWerke,auchandiesesWerkherantreten[…].Den
Dichter vomKunstwerk überhaupt zu trennen unddasKunstwerk allein zu
betrachten,wie esmancheheute fürdie ästhetischeKenntnis verlangen,wäre
jedenfallsdemhier vorliegendenZielegegenüber sinnwidrigundunmöglich,
denn der spezielle Charakter der Komposition einer bestimmten Gedicht-
sammlung, ihr „So und nicht anders“ kann nur aus demCharakter dieses
bestimmtenAutors hervorgehen.176
Brecht erteilte in seiner Erklärung sowohl den biographisch-monogra-
phischen Großunternehmungen des 19. Jahrhunderts als auch den
formalästhetischen, allein auf dasWerk konzentriertenHerangehenswei-
sen,wie sie inden1910er und1920er Jahrenprominent vonFritz Strich
undOskarWalzel propagiert wurden, eine Absage.177 Jedoch war diese
Absage weder in die eine noch in die andere Richtung eine derart ent-
schiedene, dass er ohne Bedenken als ausgewiesener Vertreter einer be-
173 MeyersGedichtband von 1882wurde vomAutor selbst bis zur fünftenAuflage
1892 immer wieder bearbeitet und erweitert und war 1917 bereits in der
80.Auflage erschienen.
174 Brecht: Conrad FerdinandMeyer und das Kunstwerk seiner Gedichtsammlung
(1918), S. 209.
175 Brecht: Conrad FerdinandMeyer und das Kunstwerk seiner Gedichtsammlung
(1918), S. 207–208.
176 Brecht: Conrad FerdinandMeyer und das Kunstwerk seiner Gedichtsammlung
(1918), S.X.
177 Zur zeitgenössischen formalästhetischen Literaturforschung vgl. Benda:Der ge-
genwärtige Standder deutschenLiteraturwissenschaft (1928), S. 38–46.
I. Die Verfasstheit derWiener
Germanistik52
Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Titel
- Germanistik in Wien
- Untertitel
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Autor
- Elisabeth Grabenweger
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 290
- Schlagwörter
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Kategorie
- Lehrbücher