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stimmten Wissenschaftsauffassung gelten kann. Zeitgenössisch führte
diese Zwischenstellung dazu, dass er je nach Selbstverständnis der Beur-
teiler für verschiedeneStandpunkte inAnspruchgenommenwurde.Dass
dieseVereinnahmungsversuchenicht immerohneAmbivalenzenmöglich
waren, zeigt eine ausführliche Rezension vonBrechts Buch überConrad
FerdinandMeyer in derZeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwis-
senschaft.Darin nennt Alfred Baeumler Brechts Studie nicht nur „einen
beachtlichen Fortschritt […] [i]nnerhalb der neueren, aufs Objekt ge-
richteten wissenschaftlichen Bestrebungen“, er bezeichnet sie sogar als
„HöhepunktderobjektivistischenMethode“,daBrecht zeige, „daßunsere
ästhetische Kritik den toten Biographismus innerlich überwunden hat“,
indemer„dasBiographische[…]indieFormaufhebt“.178Gleichzeitigund
imWiderspruchzuseinerbisherigenBeurteilungderStudiewarfBaeumler
Brecht aber auch vor, noch tief in einer auf der Sammlung von Fakten
beruhenden, d.h. in einer positivistischenWissenschaftsauffassung ver-
wurzelt zu sein,weshalb seine Studie,wieBaeumler abwertend feststellte,
vor allem „alsQuelle derBelege“wertvoll sei:
EsistkeinBuch,wasunsvorliegt, sondernnurdasMaterialzueinem.[…]Sie
[dieUntersuchung, E.G.] gibt zu viel unaufgelösten Stoff.Die philologische
Treueläßtsichwahren,auchwennmanzusammenfaßt.BrechtsWerkhätteein
Buch für dieGebildetenwerden können, es ist ein Buch für Philologen ge-
worden.179
EinenbesonderenPlatzunterBrechtsWienerPublikationennehmenseine
Arbeiten zur österreichischen Literatur, vor allem zu Hugo von Hof-
mannsthal, ein.Mit österreichischerLiteratur hatte sichBrecht vor seiner
BerufungnachWien1914nichtbeschäftigt.ÜberösterreichischeLiteratur
zupublizieren,begannBrechtmitseinemAufsatz„WesenundWerdender
deutsch-österreichischen Literatur“ von 1920.180Die österreichische Li-
teraturgeschichte war eine der Herausforderungen, mit denen sich die
Vertreter der Lehrstühle für Deutsche Philologie in der österreichisch-
ungarischenMonarchie seit der Institutionalisierung des Fachs nach der
Universitätsreform von 1848/49 zu befassen hatten.181 Selbst Wilhelm
178 Baeumler:KonradFerdinandMeyer [Rez.] (1921), S. 468
179 Baeumler: Konrad Ferdinand Meyer [Rez.] (1921), S. 470. Baeumlers „Vor-
schlag“,Brecht solle„daswichtigste ineinemAufsatz“zusammenfassenundinder
nächsten Auflage „den Gedichten bei[geben]“, wurde schließlich realisiert, vgl.
Brecht: Einleitung (1924).
180 Brecht:WesenundWerdender deutsch-österreichischenLiteratur (1920).
181 ZumFolgendenvgl.Michler:„DasMateriale füreinenösterreichischenGervinus“
(1995);Zeman:DerWeg zur österreichischenLiteraturforschung (1986).
I.3. Philologie undmoderate Geistesgeschichte 53
Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Titel
- Germanistik in Wien
- Untertitel
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Autor
- Elisabeth Grabenweger
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 290
- Schlagwörter
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Kategorie
- Lehrbücher