Seite - 64 - in Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
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sondern auch eine ganz basale, gleichwohl nicht zu überschätzende
Kompetenz, die den verständnisvollen Umgang mit verzweifelten Erst-
undZweitsemesternbetraf. „At thebeginningIwasquite lost“, schriebder
spätere Lyriker, Essayist und New Yorker Germanistikprofessor Ernst
Waldinger, der 1938 ausÖsterreich fliehen konnte, über seinen Studien-
beginn inWien1918:
[A] freshman at theViennaUniversity was in a rather difficult situation; at
leastduring the first twosemestershewasat loss andwithoutanyorientation
on part of the academic authorities; this applied at least to themajority of
disciplineswithintheFacultyofPhilosophywhich,exceptforthoseofscience,
havenoregulatedsyllabus.ProfessorBrecht,oneofmyprofessors,oncetoldus
inaseminarthatatthebeginningofhisuniversitycareerhewascompletelyata
losswhenfacingtheextensiveless [!]ofhischosenfield,whichseemedendless
to him.222
BrechtsWienerLehreumfasstenebendenobligatorischenVorlesungenzur
Literaturgeschichte, in denen er das gesamte Spektrum der neueren Ab-
teilung, also die Zeit vom Ende des Mittelalters bis zum Beginn des
20. Jahrhunderts abdeckte, vor allemSeminare zur Lyrik. In neun seiner
insgesamt 25 Semester, in denen er an derUniversitätWien Lehrveran-
staltungen hielt, konzentrierte sich sein Programm auf Gedichte (Opitz,
Mörike, Schiller, Goethe, Klopstock, Hölderlin, Balladen des 18. und
19. Jahrhunderts, C.F.Meyer). Daneben finden sich, was einen klar er-
kennbaren Unterschied zu seinem Vorgänger Jakob Minor ausmacht,
deutlich mehr stilkritische als biographische Übungen. Insgesamt war
Brecht in seiner zwölf Jahre dauernden Amtszeit inWien für 63 Lehr-
veranstaltungen verantwortlich.223Da diese pro Semester vonmehreren
hundert Studierenden besucht wurden, war die Kapazität der Universi-
tätsräumlichkeiten beiWeitemüberschritten: „[M]eine fast 400Zuhörer
[sitzen] auch auf denKathederstufen […].“224Tatsächlich hatte die phi-
losophische Fakultät bei Brechts Amtsantritt im Sommersemester 1914
bereits2.161Studierende,wovon438,alsoetwaeinFünftel,Studentinnen
waren. Im darauffolgendenWintersemester 1914/15 fiel die Studieren-
denzahl kriegsbedingt auf 1.712,darunter nunbereits 641Studentinnen,
etwas mehr als ein Drittel; imWintersemester 1918/19 waren an der
222 Waldinger:MyViennaUniversityCareer (1965), S. 85.
223 Vgl. hierzu und zumVorigen die gedruckten Verzeichnisse: Öffentliche Vorle-
sungen anderK.K.Universität zuWien (1914–1918);ÖffentlicheVorlesungen
anderUniversität zuWien (1919–1926).
224 Brief vonBrecht an Paul Kluckhohn vom19.November 1925;DLAMarbach,
Bestand: PaulKluckhohn.
I. Die Verfasstheit derWiener
Germanistik64
Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Titel
- Germanistik in Wien
- Untertitel
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Autor
- Elisabeth Grabenweger
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 290
- Schlagwörter
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Kategorie
- Lehrbücher