Seite - 105 - in Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
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Ihre Ausführungen eröffnet Touaillonmit einemÜberblick über die
Geschichte des deutschenMännerromans, der sie eine umfassende Sozi-
algeschichte derFrauvomMittelalter bis ins 18. Jahrhundert folgen lässt,
um schließlich zum eigentlichen Thema, den „unmittelbaren Entste-
hungsursachen des deutschen Frauenromans“ (Touaillon 1919, 57–66),
zu kommen:Zu diesen zählt sie nicht, wie es Ende der 1910er Jahre in-
nerhalb der Germanistik en vogue gewesen wäre, ein überpersönliches
abstraktes Entwicklungsschema oder einen geistesgeschichtlichen, ,un-
hintergehbarenWeltlauf‘, sondernkonkrete,historischfass-underklärbare
Konstellationen. So sei dieKonzentrationdesRationalismus auf Bildung
und Belehrung für einen ersten Zugang von Frauen zur literarischen
Produktionverantwortlichgewesen;vorallemdurchdengroßenErfolgder
MoralischenWochenschriften, die über ein halbes Jahrhundert „die Bil-
dungunddieWeltanschauungderdeutschenFrau“ (Touaillon1919, 57)
prägten. Die um 1750 aufkommende Briefleidenschaft wiederum er-
möglichte, dass Frauen „außerhalb der Literatur eine schriftstellerische
Technik von nicht geringer Bedeutung“ (Touaillon 1919, 58) erwerben
konnten, und führte zudem– durch inZeitschriften abgedruckte Leser-
briefe und Briefwechsel mit berühmtenMännern – zu einer ersten Be-
rührungmit der (literarischen)Öffentlichkeit. Auch der Pietismus habe,
wenngleich „ganz gegen seine Absicht“, das „Wesen der Frau für Kunst
aufgeschlossen, indemerdas ganze Leben auf dieGrundlage desGefühls
stellte“ (Touaillon 1919, 61). Als dritte Ursache nennt Touaillon einen
Wandel imVerhalten ,gelehrterMänner‘, die, wie Christian Fürchtegott
Gellert, Johann Christoph Gottsched oder Johann Jakob Bodmer, be-
gannen,FrauenexplizitzurSchriftstellereianzuhaltenunddamitnebendas
„IdealderHausfrau“auchdas„IdealdergebildetenundgeistigfreienFrau“
(Touaillon 1919, 62) treten ließen.
DochnichtnurgesellschaftlicheVeränderungen seien fürdenZugang
von Frauen zur Literatur verantwortlich gewesen, sondern auch Trans-
formationen im künstlerischen Feld selbst: Durch die Entstehung des
Familienromans sei „eine neue Epoche der deutschen Literatur“ ange-
brochen,die„zumerstenmaldieFrauzumStoffderDichtung“(Touaillon
1919, 63) werden ließ: Hatte der literarische Stoff durch seine Konzen-
trationaufKämpfe, IrrfahrtenundAbenteuerdavor jahrhundertelangden
Frauendas „Eindringen indieDichtungerschwert“, soging es in ihr jetzt
um„das selbsterlebteNahe“ (Touaillon1919,64),wodurchauchdieFrau
als Leserin gewonnenwerden konnte unddamit zu einem (ökonomisch)
relevantenFaktoraufdemBuchmarktwurde.Gleichzeitigerleichtertendas
geringe Prestige des Romans, die einfache, poetologisch nicht explizit
II.2. Literatur-, Kultur- und Sozialgeschichte 105
Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Titel
- Germanistik in Wien
- Untertitel
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Autor
- Elisabeth Grabenweger
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 290
- Schlagwörter
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Kategorie
- Lehrbücher