Seite - 109 - in Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
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erste deutschsprachige Schriftstellerin, die sich in ihrer literarischen Pro-
duktion mit historischen Stoffen beschäftigte. Die zeitgenössische Ge-
schichtsforschung hatte sich im „Anschluß an Voltaire, Hume und Ro-
bertson“vonTheologieundRechtswissenschaftabgelöstundkonzentrierte
sich seither nicht mehr auf Einzelereignisse und Herrscherschicksale,
sondern trachtete nun – ausgehend von der Annahme einer „inneren
Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Entstehens“ –, die „Gesamtent-
wicklung des ganzen menschlichen Geschlechtes“ darzustellen und die
„Existenz einesZeitkolorits und einesNationalcharakters“ zupostulieren.
(Touaillon1919,382)VordiesemHintergrundhabesichNaubertsRoman
andie „einzige damals vorliegende FormdesGeschichtsromans, nämlich
an den heroisch-galanten Roman“ (Touaillon 1919, 382–383) ange-
schlossen, diesen aber wesentlich verändert und erweitert. Nicht mehr
erdichtetehistorischeSzenerienunddas IneinanderwebenvonGegenwart
und Vergangenheit spielen bei ihr eine Rolle, sondern ein reflektierter
Umgangmit historischenQuellen oder, wie Touaillon –Naubert zitie-
rend–betont, dasAnsinnen, „diewahreGeschichtenie zu entstellenund
sich nur beiMuthmaßungen eigeneDichtungen zu erlauben“.Dement-
sprechendsiehtTouaillonNaubertsSelbstpositionierungals „ganzbewußt
zwischenGeschichte undDichtung“angelegt: Sie sei „weder alsGelehrte
nochvöllig alsRomanschreiberin“zu sehen; ihreRomaneversieht siemit
„gelehrten Anmerkungen, […] Bezugnahme[n] auf Chroniken undwis-
senschaftlicheWerke“, gleichzeitig habe sie aber auch „dasBedürfnis, die
politischenTatsachenmitmenschlichen Schicksalen zu durchsetzen und
mit demReiz derAbenteuer auszuschmücken“. (Touaillon 1919, 386)
Nauberts „AuffassungdesWeltgeschehens“schätztTouaillon„inallen
wichtigenPunkten [als] rationalistisch“ ein:Dazu zählt sie die skeptische
Betrachtung historischer Ereignisse und der bisherigen Geschichtsfor-
schung ebenso wie die Geringschätzung von „Sitten und Meinungen,
welchemit ihrer eigenenZeit inWiderspruch stehen“. (Touaillon 1919,
388–389)Vorallem,dass inNaubertsRomanenalleEntwicklungeneiner
scheinbar natürlichen, kausal erklärbaren Folgerichtigkeit unterliegen,
führt Touaillon auf ihre Nähe zur Aufklärung zurück.72 Für die Emp-
Urheberschaft ihrer sehr beliebten Romane bekannt[e]“, begründet Touaillon
damit,dass„Bescheidenheit[…]derinnersteGrundzugihresCharaktersgewesen“
sei. Touaillon:Der deutsche Frauenroman des 18. Jahrhunderts (1919), S. 341.
72 Das Entwicklungsschema von Nauberts Romanen erklärt Touaillon folgender-
maßen:„Awirdz.B.durchBzudemZweckeCerzogen;dieserZweckCsetzt sich
aus den Faktoren c1, c2, c3 zusammen. Um diese Faktoren und schließlich C
II.2. Literatur-, Kultur- und Sozialgeschichte 109
Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Titel
- Germanistik in Wien
- Untertitel
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Autor
- Elisabeth Grabenweger
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 290
- Schlagwörter
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Kategorie
- Lehrbücher