Seite - 112 - in Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
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auchder „schon angeborene[ ]männliche[ ]Keim inder SeeleBenedicte
Nauberts“ beigetragen. (Touaillon 1919, 435–436)
Den Abschnitt über den klassizistischen Frauenroman eröffnet Tou-
aillonmitCaroline vonWolzogen, die sie „[u]nter dendeutschenFrauen
des18. Jahrhunderts“zu„eine[r]derBegabtesten“zählt. (Touaillon1919,
451)WolzogensHinwendung zu Idealender klassischenAntike, zuMaß,
Harmonie, Reinheit und Erhabenheit, erklärt Touaillon aus dem Cha-
rakterderAutorin.SoseiWolzogenein„echtmodernernervöserMensch“
gewesen, der „dasmangelndeGleichgewicht [seines]Herzens“ durch die
Erschaffung„eine[r] zweite[n]Welt“auszugleichengesuchthabe, „weil ihr
die erste zu traurig und zu gewöhnlich“ erschien:
SiesuchtdaherdieHarmonie,welche ihremeigenenWesenfehlt,aus fremder
Größe zu schöpfen: Kant stärkt sie, Herder versöhnt sie mit dem Leben,
HomerundGoetheschaffenihreinehöhereundfreundlichereWelt.Größezu
lieben, ist ihre Seeligkeit,mag esnunMenschengrößeoderGröße einer Idee
sein. (Touaillon 1919, 452–453)
Wolzogens „allzu verletzlichesHerzwill dieWelt nicht sehen,wie sie ist“,
weshalb ihre Romane nicht „der lebendige Zusammenhang mit einer
blühendenWirklichkeit“ auszeichne, viel eher wirken sie, so Touaillon,
„wieidealeLandschaften,erhabenundunwirklich“.(Touaillon1919,453)
Ihre Bildung verdankeWolzogen den intellektuellen Größen ihrer Ge-
genwart:zumeinemihremSchwagerFriedrichSchiller,derihr„diegroßen
Geschichtsschreiber des Altertums“, „die griechischen Tragiker, Homer
und die griechische Komödie“ näherbrachte, zum anderenWilhelm von
Humboldt, durch den sie Plato und Euripides kennenlernte, aber auch
Goethe, der sie mit seinem „Atem erfüllt“ habe. (Touaillon 1919, 455)
Ihr erstes größeresWerk, derRomanAgnes von Lilien, der 1793 ent-
stand,dessen ersterTeil 1796und1797 inSchillersZeitschriftDieHoren
erschien und der 1798 durch Schillers Vermittlung bei Unger in Berlin
auch als Buchausgabe publiziert wurde, habe laut Touaillon in seiner
Technik den „Zusammenhangmit demälterenRomane nochnicht ganz
abgestreift“, sei aber inhaltlich eindeutig dem „neue[n] Typus“ des klas-
sizistischenRomans zuzurechnen.Dabei bildeAgnes von Lilien „[d]eutli-
cher als diemeisten anderenWerke jener Zeit“ ein „Zwischenglied zwi-
schenAufklärungundRomantik“:DasLeben sei derAutorinnichtmehr
selbstverständlich und klar und noch nicht geheimnisvoll erschienen,
sondern „als eine Aufgabe, die in Schönheit gelöst werden“müsse. Auch
habe siebereitsdie „ErkenntnisdesGegensatzes zwischenHerzundWelt“
besessen, der abernichtwie inderRomantik „lebenszerstörend“, sondern
II. Christine Touaillon
(1878–1928)112
Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Titel
- Germanistik in Wien
- Untertitel
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Autor
- Elisabeth Grabenweger
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 290
- Schlagwörter
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Kategorie
- Lehrbücher