Seite - 142 - in Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
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Bereich des Fachs: InGestaltungsfragen der Lyrik (1925) ging Thalmann
davonaus,dassdieAnordnungderGedichteinnerhalbeinesGedichtbands
immer –undnicht nur bei so offensichtlich zyklischund architektonisch
verfahrenden Lyrikern wie Stefan George – das Zeugnis eines überper-
sönlichen, lyrischen Gestaltungswillen des Autors darstellt, dass „in der
KompositiondesGedichtbuchesWertevonästhetischerTotalität liegen“11.
Bezugnehmend auf Ornamenttheorien und formalästhetische Konzepte
derKunstforschung(AloisRiegl,HeinrichWölfflin,WilhelmWorringer),
auf OskarWalzels stiltypologische Arbeiten und auf die Studie Conrad
FerdinandMeyer und das Kunstwerk seinerGedichtsammlung (1918) ihres
LehrersWalther Brecht erkannte Thalmann zwei verschiedene „stilprin-
zipielle Gestaltungen“12 und Aufbaugesetze in deutschsprachigen Ge-
dichtbänden (u.a. von Heine, Lenau, Mörike, George, Rilke, Droste-
Hülshoff, ArnoHolz): Das eine Gesetz sei durch die geometrische Or-
namentik des Kreises wie bei Rilke und George, das andere durch die
organisch-vegetabilischeOrnamentikderWellenlinie gekennzeichnet, die
am ausdrücklichsten bei Droste und Heine zu finden sei. Mit dieser
formalästhetischenBestimmungderKonzeption vonGedichtbänden gab
sichThalmannabernicht zufrieden; gleichzeitig versah siediese auchmit
Erläuterungenzur„nationale[n]BedingtheitdesFormwillens“13.Während
das organisch konzipierte Gefüge durch ,fremde‘, nämlich romanische
Einflüssebestimmt sei, offenbaredasgeometrischedieBesinnungaufden
deutschen „Nationalstil“14.
MitGegenwartsliteratur beschäftigte sich Thalmann in ihren letzten
beiden vonWien aus publizierten Büchern. Sowohl inHenrik Ibsen, ein
Erlebnis derDeutschen (1928) als auch inDieAnarchie imBürgertum.Ein
Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des liberalen Dramas (1932) entwarf
ThalmanneinepessimistischeZeitdiagnose, indersiedieEntwicklungdes
nachromantischenDramasals Indiz fürdieVerfallsgeschichtedes liberalen
Bürgertums las. Ibsen charakterisierte sie dabei als „Prediger vor dem
mann, Die Anarchie im Bürgertum [Rez.] (1932), S. 334. – Unter demselben
Aspekt, aber wissenschaftlich negativ bewertet wurdeGestaltungsfragen der Lyrik
von Richard Newald, der zwar hervorhob, dass Thalmann „zum erstenmale
SammlungenlyrischerGedichtealsGesamtheitenauffaßt“,dieErgebnisseaberals
reine „Spekulation“ abtat. Newald:Marianne Thalmann, Gestaltungsfragen der
Lyrik [Rez.] (1926), S. 113–114.
11 Thalmann:Gestaltungsfragen der Lyrik (1925), S. 4.
12 Thalmann:Gestaltungsfragen der Lyrik (1925), S. 96.
13 Thalmann:Gestaltungsfragen der Lyrik (1925), S. 101.
14 Thalmann:Gestaltungsfragen der Lyrik (1925), S. 103.
III.Marianne Thalmann
(1888–1975)142
Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Titel
- Germanistik in Wien
- Untertitel
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Autor
- Elisabeth Grabenweger
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 290
- Schlagwörter
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Kategorie
- Lehrbücher