Seite - 189 - in Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
Bild der Seite - 189 -
Text der Seite - 189 -
des Zählens, Messens und Wägens“ angewendet, um „Kategorien“ zu
finden, „welche eine ganzmechanische, dieWillkürmöglichst ausschlie-
ßendeEinordnungderTatsachen zulassen“.29
Wenn hier fast zeitgleich die beidenWiener Altgermanisten Rudolf
MuchundRichardHeinzelmit denselbenAttributenporträtiertwurden,
dieseabermitgrundsätzlichanderenVorzeichenversehenwaren,dannlässt
sich zunächst feststellen, dass eine Auseinandersetzung um dieDefiniti-
onsmacht über Gegenstand und Methode des älteren Fachs stattfand.
Tatsächlich beschäftigte sichHeinzel fast ausschließlichmit der Literatur
des8.bis15.Jahrhundertsundversuchtenureinmal, inseinerArbeitÜber
den Stil der altgermanischen Poesie von 1875, aus der Literatur eine Ge-
schichte der Nationalität abzulesen, weigerte sich sonst aber, aus Hel-
densagenoderanderen literarischenTextenrealhistorischeSachverhalte zu
erschließen.30Das Forschungsgebiet Muchs sah ganz anders aus. Much
spezialisierte sich von Beginn an auf deutsche Altertums- und Germa-
nenkunde, legte seinen Forschungszeitraum also mehrere hundert Jahre
früher an, undwidmete seinewissenschaftlicheAufmerksamkeit weniger
der Spezifität von Literatur als dem historischen Aussagewert von
„Wörter[n] undSachen“31.
Nachdem im letztenDrittel des 19. Jahrhunderts dieFächertrennung
derGermanistik in eine neuere und eine ältere Abteilung nominell fest-
geschriebenwordenwar, stellte sichnichtnur fürdieneuere,wie schonoft
angemerkt wurde,32 sondern auch für die ältere Abteilung die Frage, auf
29 Körner: Deutsche Philologie [1935], S. 72–73. Zu Heinzels ,objektiver‘ Ar-
beitsweise vgl. auch Schmidt: Die literarische Persönlichkeit (1909), S. 189–
190. – Helmut Birkhan und Peter Wiesinger, zwei Schüler von Otto Höfler,
tradieren bis heute dessen (vonMuch übernommene) Auffassung, dass die Er-
kenntnis der Aussichtslosigkeit einer solchen Arbeitsweise Heinzel 1905 in den
Selbstmordgetriebenhabe.Wiesinger/Steinbach:150JahreGermanistik inWien
(2001), S. 49;Birkhan: „Altgermanistik“undgermanistische Sprachwissenschaft
(2003), S. 146 (Anm. 106). – Dazu muss bemerkt werden, dass Höfler 1901
geboren wurde, beim TodHeinzels also vier Jahre alt war, undWiesinger und
Birkhannicht einmal in dieNähe einerZeitzeugenschaft kommen.
30 Amauffälligsten istdieseHaltung inHeinzelsArbeitBeschreibungder isländischen
Saga von1880, in der die Sagas systematisch zerlegt undbeschrieben, aber keine
AussagenüberderenhistorischeEntstehungoderEntwicklung getroffenwerden.
Auffällig ist das deshalb, weil gerade die (isländischen) Sagas beiMuch als Aus-
kunftsmaterial über dasGermanentumherhaltenmussten.
31 So der Titel der 1909 von Rudolf Much gemeinsam mit seinem ehemaligen
StudienkollegenRudolf Meringer und demRomanistenWilhelmMeyer-Lübke
gegründetenZeitschrift, in der auchderNachruf Höflers erschien.
32 Vgl.Kap. I. IV.1. Altertums- undGermanenkunde 189
Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Titel
- Germanistik in Wien
- Untertitel
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Autor
- Elisabeth Grabenweger
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 290
- Schlagwörter
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Kategorie
- Lehrbücher