Seite - 190 - in Germanistik in Wien - Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
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welche Prinzipien sich ihre Wissenschaft berufen sollte und wann ihr
Gegenstand anzusetzen sei. Bezugspunktwar auch hierWilhelm Scherer
bzw. seineAuffassungvomWesenundvonderGeschichtederDeutschen
Philologie. Scherers Ansatz derGermanistik alsWissenschaft ist imwei-
testenSinnealseinintegrativerzubezeichnen.33Erentwarfdas„Programm
einer exakten Geschichtswissenschaft der Nation und ihrer Literatur“34,
verband also die naturwissenschaftlichen, vermeintlich unhintergehbaren
Ideale der ,strengen‘ Schule seines Lehrers Carl Lachmann mit einem
historischen Verständnis, das auch größere und entferntere Zusammen-
hänge fassbarmachte, und verknüpfte diese wiederummit einemnatio-
nalpolitischen Blick auf die deutschsprachige Literatur und Sprache.35
Scherer, der vor allemvonVertreternderGeistesgeschichte abwertend als
,Positivist‘ bezeichnet wurde, versuchte viel eher, die sich im Zuge der
Professionalisierung der Universitätsgermanistik getrennten Sphären des
wissenschaftlichen, das hieß zeitgenössisch philologischen Arbeitens
(Edition,Kommentar, Kritik)wiedermit einemSynthesen ermöglichen-
den historischen Blick zu verbinden; jedoch nicht ohne dies dem Pro-
grammeiner „nationale[n] Ethik“ zu unterwerfen.36
Scherers Entwurf derDeutschenPhilologie alsWissenschaftwurde–
obwohl eindeutig mehrdimensional konzipiert – von Kollegen und
Schülernoftmalsnurpunktuellübernommenundstarkgemacht.Richard
Heinzel konnte von all dem nur der auf Exaktheit und Nüchternheit
ausgelegten, philologischen bzw. den Naturwissenschaften angelehnten
Seiteetwasabgewinnen,entsprachalsodemzeitgenössischenPositivismus-
Vorwurf weitaus mehr als sein Freund und Vorgänger auf demWiener
Lehrstuhl,WilhelmScherer.37AmwenigsteninteressierteHeinzelScherers
33 ScheresWissenschaftsauffassung kannhier nur stark verkürzt dargestellt werden.
Vgl. zumFolgendenu.a. Scherer:Briefe undDokumente aus den Jahren1853–
1886 (2005); Michler: Lessings „Evangelium der Toleranz“ (2003); Müller:
WilhelmScherer (2000);Michler: An den Siegeswagen gefesselt (1996);Höpp-
ner:Das „Ererbte, Erlebte undErlernte“ imWerkWilhelmScherers (1993).
34 Michler: AndenSiegeswagen gefesselt (1996), S. 237.
35 So kam es auch, dass Scherer Vorwürfe entgegengebracht wurden, die einander
eigentlich ausschließen: die des kleinkrämerischen ,Positivisten‘, die des unge-
nauen ,Feuilletonisten‘, die des preußisch-deutschen ,Nationalideologen‘unddie
des ,Judenfreundes‘,derdemAnsehenderdeutschenNationschade.Vgl.Michler:
An den Siegeswagen gefesselt (1996); ders.: Lessings „EvangeliumderToleranz“
(2003).
36 Scherer: ZurGeschichte der deutschen Sprache (1868), S.VIII.
37 Heinzelmusste sich dafür vonScherer zwar freundlichen, aber doch eindeutigen
Hohngefallen lassen.Vgl.Michler:AndenSiegeswagengefesselt (1996), S. 237.
IV. LilyWeiser
(1898–1987)190
Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Titel
- Germanistik in Wien
- Untertitel
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Autor
- Elisabeth Grabenweger
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 290
- Schlagwörter
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Kategorie
- Lehrbücher