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61Religion
und Gewalt in den Revolutions- und Napoleonischen Kriegen
Manche Kommandanten besaßen genügend Menschenverstand, um Rück
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sicht auf den örtlichen Kultus zu nehmen und an beliebten Feiertagen teil-
zunehmen, denn sie wussten um die Stärke religiöser Überzeugungen und,
dass es einiger Anstrengung bedurfte, um Klerus und Bevölkerung für sich
zu gewinnen72. Freilich waren zahlreiche französische Verwaltungsbeamte
und Soldaten tatsächlich antiklerikal eingestellt und sahen in der Religion
den Erzfeind der Revolution, während die revolutionären Regime und nach
ihnen das Erste Kaiserreich dazu neigten, die Lebendigkeit religiöser Gefühle
in der eroberten Bevölkerung zu unterschätzen. Hier zeigt sich die transna-
tionale Dimension der katholischen Kirche und der revolutionären Antwort
auf den katholischen Widerstand
– oder auf die Gegenrevolution, wenn man
so will. Zwischen französischen Reaktionen auf religiös motivierten Wider-
stand im Kernland und in den besetzten und eroberten Gebieten ist kein
wesentlicher Unterschied festzustellen. Gewalt, Grausamkeit und Intoleranz
bildeten die Regel, wenngleich nicht durchweg im selben Maße.
Interessanter hingegen ist – bei allem Respekt gegenüber Bernard Plon-
geron – die Frage, inwiefern der revolutionäre Augenblick in Europa sich in
einen umfänglicheren Prozess europäischer, ja weltweiter Säkularisierung
einfügt. Demnach habe das Christentum in einer Art dialektischen Bezie-
hung zur Moderne gestanden, d.h. zur wissenschaftlichen, politischen und
kulturellen Entwicklung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Zur
Beantwortung dieser Frage würde es sich lohnen, wie es schon für andere
Epochen getan wurde, die Spannungen zwischen Kirche und Staat in der
politisch-kulturellen Welt des Ancien Régime zu untersuchen, und zu fragen,
wie diese Spannungen die Voraussetzungen für die nachfolgenden Ereig-
nisse der Revolution schufen. Aus der Betrachtung dieser Epoche gehen zwei
Modelle hervor: eines der (religiösen und politischen) Toleranz, die beide auf
den Revolutionen in Amerika und Frankreich fußen, und eines der Konfron-
tation, für welche das revolutionäre Frankreich prototypisch steht73.
An einigen Momenten während der Konfrontation zwischen Revolution
und Kirche schien es, als sei die Revolution darauf aus, die Kirche zu zer-
stören. Die Vertreter der Revolution zeigten sich nicht fähig oder willens,
den strengen Säkularismus mit der 1789 als einer der Gründungsdokumente
der Revolution verfassten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zu
versöhnen. In Artikel 10 derselben heißt es: »Niemand soll wegen seiner
Anschauungen, selbst religiöser Art, belangt werden, solange deren Äuße-
rung nicht die durch das Gesetz begründete öffentliche Ordnung stört«.
72 Vgl. John A. Davis, Naples and Napoleon. Southern Italy and the European Revolu-
tions, 1780–1860, Oxford 2006, S. 101.
73 Vgl. Philippe Bourdin / Philippe Boutry, L’ Église catholique en Révolution. L’ his-
toriographie récente, in: Annales Historiques de la Révolution Française 355 (2009),
H. 1, S. 3–23, hier S. 11f.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918