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66 Eveline G. Bouwers
mehr zur Belastung. Die meisten Liberalen4 würdigten die soziale Funktion
der Religion und erkannten die katholische Identität der Belgier an, kriti-
sierten jedoch die althergebrachten kirchlichen Strukturen und verurteilten
jede politische Einflussnahme seitens des Klerus. Viele Katholiken sahen im
konstitutionellen Freiheitsprinzip einen Mechanismus, der die Kirche vor
staatlicher Einmischung bewahrte. Uneinig hingegen waren sie sich über den
richtigen Umgang mit den Liberalen (die Ultramontanen lehnten den Unio-
nismus ab) und über die politische Struktur Belgiens (die Demokraten streb-
ten eine Stärkung der lokalen und regionalen Behörden an, was die Bischöfe
und König Leopold I. ablehnten)5.
Für die 1830er Jahre ließe sich das zeitgenössische Motto »die Union [d.h.
die katholisch-liberale Allianz – Anm. E.B.] schafft die Kraft« auch als »der
Feind schafft die Kraft« lesen. Folglich verschwand mit der internationalen
Anerkennung Belgiens 1839 eine Stütze der unionistischen Politik. Die Ver-
fassung wurde vermehrt zum Streitpunkt, interpretierten die Fraktionen sie
doch ganz anders. Die Entfremdung der beiden Lager wurde bereits in der
Diskussion um die Schulreformen der frühen 1840er Jahre sichtbar, doch
zu einer vorläufigen Spaltung kam es erst mit dem Wahlsieg der Liberalen
1847, die ab jetzt eine Stärkung des parlamentarischen Systems und eine
Eingrenzung des klerikalen Einflusses anstrebten. Neben der Freimaurerei
begünstigte vor allem die aufblühende Presselandschaft die Verbreitung
liberaler Ideen und trug so zur Schwächung des Unionismus bei – auch weil
die Katholiken alsbald mit eigenen Mitteln nachzogen. Das endgültige Ende
der unionistischen Politik bereitete das »Gesetz der Wohltätigkeitseinrich-
tungen« von 1857, das Religiösen und Kongregationen die Annahme von
Schenkungen, Erben und Legaten ermöglichen sollte. Zusätzlich belastend
war, dass der Streit um den religiösen Raum zunehmend durch zwei wei-
tere gesellschaftliche Bruchlinien ergänzt wurde: den sozialwirtschaftlichen
Riss, d.h. den Konflikt zwischen städtischer und ländlicher Gesellschaft bzw.
besitzender und arbeitender Klasse, und die kulturell-sprachliche Differenz
zwischen flämisch- und französischsprachiger Bevölkerung.
4 Mit »Liberalen« sind diejenigen gemeint, die eine Eingrenzung des kirchlich besetz-
ten religiösen Raums zugunsten des Staates anstrebten. »Katholiken« verweist auf
diejenigen, die eine Aufrechterhaltung
– in manchen Fällen sogar eine Ausweitung
–
des kirchlichen Einflusses anstrebten; es geht hier also um eine gesellschaftspoliti-
sche Haltung statt einer religiösen Gesinnung.
5 Trotz vatikanischer Verurteilung des liberalen Katholizismus (vgl. die Enzyklika
Mirari Vos, 1832) hielt sich Rom im Falle Belgiens zurück in der Hoffnung, die pre-
käre Unabhängigkeit und katholisch-liberale Allianz nicht zu gefährden. Für die
Beziehungen zwischen Belgien und dem Heiligen Stuhl, siehe auch Vincent Viaene,
Belgium and the Holy See from Gregory XVI to Pius IX (1831–1859). Catholic Re-
vival, Society and Politics in the 19th-Century Europe, Turnhout 2001.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918