Seite - 86 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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86 Eveline G. Bouwers
des katholischen Märtyrertums weitergeführt, reale Gewaltakte jedoch
abgewendet. Diese Gewaltvermeidung ist nicht nur auf das geschickte Han-
deln eines einzelnen Kongregationisten zurückzuführen, sondern beleuchtet
auch, dass der Streit ab 1881 – und nicht erst ab 1884 – in eine neue Phase
eintrat 76. Tatsächlich verzeichnet der katholische Protest bis zur Etablierung
des freien Grundschulunterrichts im Winter 1880/81 eine Verdichtung und
Verhärtung, worauf eine Periode relativer Pazifizierung folgte, die von neuen
bischöflichen Vorgaben begünstigt und vom friedlichen Empfang der freige-
lassenen Heuler Gefangenen bestätigt wurde77. Gerade aus der Gewaltpers-
pektive erscheint das Jahr 1884 weniger als Zäsur, bildete doch die gewaltsame
Austragung religionsbezogener Konflikte schon vor der Großmanifestation
vom 7. September 1884, als sich zehntausende Gläubige in Brüssel versam-
melten, einen integralen Bestandteil katholischer Mobilisierungspraktiken78.
Wichtig ist zudem, dass ein zu starker Fokus auf 1884 die Dynamiken des
innerkatholischen Pluralismus verkennt. Tatsächlich war nach der Zerbrö-
ckelung des katholischen Lagers in den Frühjahren des »Schulstreits« eine
Versöhnung zu beobachten, die u.a. durch den gemäßigten Ton der Bischöfe
und das Ausscheiden kirchenkritischer Stimmen ermöglicht wurde. Zugleich
war der Streit mit dem Sturz von Van Humbeecks Schulreform nicht zu
Ende, sondern die Konflikte um die Bildungsfrage sollten Belgien noch über
Jahrzehnte begleiten.
Neben der besonderen Periodisierung und dem Pluralismus, ist »Heule«
auch exemplarisch für andere, hier nicht weiter ausgeführte Aspekte des
Konflikts um den Grundschulunterricht in Belgien. So nahmen Männer und
Frauen gleichermaßen am Widerstand gegen das Gesetz von 1879 teil, was zum
einen die Grenzen der Feminisierungsthese innerhalb der Katholizismus -
76 Wenn auch die katholisch-liberalen Auseinandersetzungen nicht über Nacht ver-
schwanden, erwähnten viele Zeitgenossen eine allmähliche »Abschwächung« des
Streits um die Grundschule. Pieter Waterschoot am 27. Februar 1882 in Oosterzele,
in: Chambre des Représentants, Enquête scolaire: procès-verbaux, Bd. 2–1, S. 377;
Octaaf Buyse am 7. Januar 1882 in Zottegem, in: Ebd., Bd. 2–1 , S. 126.
77 Im Bistum Brügge wurde es katholischen Lehrern im Februar 1880 gestattet in Aus-
nahmefällen an Gemeindeschulen zu unterrichten. Ein halbes Jahr später durften
Katholiken (solange sie extern verblieben) die staatlichen Lehrerausbildungsschu-
len besuchen, ausnahmsweise Religionsunterricht anbieten und als Schulinspektor
arbeiten. Auch wurden ab jetzt alle Kinder zur ersten Kommunion zugelassen.
78 Neben der katholischen Großmanifestation hatte es Anfang August mehrere libe-
rale Protestmärsche gegeben. Vgl. Deneckere, Geuzengeweld, S. 109–122; Luc
Keunings, Le maintien de l’ ordre en 1884. Les manifestations d’août et de septem-
bre à Bruxelles, in: Lamberts / Lory (Hg.), 1884: Un tournant politique, S. 99–149.
Einen zeitgenössischen Bericht aus katholischer Sicht bietet Arthur Verhaegen,
La manifestation nationale du 7 septembre 1884 à Bruxelles, Gent 1885. Die These
einer Zäsur im Jahr 1884 wurde bereits von der älteren Forschung vertreten; vgl.
Van Isacker SJ, Werkelijk en wettelijk land, S. 283; Van Kalken, Les commotions
populaires, S. 74.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918