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Gewalt und Märtyrertum
forschung unterstreicht, zum anderen die geschlechterspezifische Ordnung
säkularer Protestformen im 19. Jahrhundert auf dem religiösen Gebiet aus-
weitet 79. Zweitens deutet die hiesige Analyse die Rolle von säkularen Differen-
zen für die Entfaltung von Protestakten an, die ihren Ursprung im religiösen
Raum hatten; ohne diese ergänzenden Differenzen lösten religionsbezogene
Konflikte selten Gewalt aus. Auch in Heule klang die sozialwirtschaftliche
und sprachlich-kulturelle Bruchlinie durch, z.B. indem gerade Fabrikarbei-
ter mobilmachten und die Protestierenden das antifranzösische Kampflied
Der flämische Löwe zu Gehör brachten80. Des Weiteren rückt mit Heule die
Region Flandern in den Mittelpunkt, wo der Widerstand gegen das Schul-
gesetz besonders ausgeprägt war. Die härtesten Kämpfe fanden dabei in
den Arrondissementshauptstädten (z.B. Aalst, Kortrijk, Zottegem) sowie in
der unmittelbaren dörflichen Peripherie dieser regionalen Zentren (Heule,
Hofstade) statt. Die vergleichsweise starke Konzentration des katholischen
Protestes in Flandern ist besonders interessant, weist sie doch eine räumli-
che Kontinuität mit dem »Boerenkrijg« von 1798 auf, als die Bevölkerung der
von Frankreich annektierten Gebiete u.a. gegen den republikanischen Anti-
klerikalismus aufbegehrte. Mehr noch, eine Vielzahl von Kommunen, die
damals eine »erhöhte« oder »starke Aktionsbereitschaft« aufwiesen – neben
Heule u.a. Eeklo, Kaprijke, Ninove, Oudenaarde und Ronse – verzeichneten
um 1880 erneut eine höhere Konfliktneigung81. Es unterstreicht die Bedeu-
tung historischer Gewalterfahrungen für die Konstruktion und Legitimie-
rung von gewaltsamen Protestakten in späteren Epochen.
Bleibt noch die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Gewalt in
Belgien unter der Regierung Frère-Orban-II, wie auch nach der Bezie-
hung beider Phänome generell. Bis 1879 waren die Streitigkeiten zwischen
Befürwortern und Gegnern einer Eingrenzung kirchlicher Macht oft lokale
79 Für eine Kritik an der Feminisierungsthese siehe auch Van Osselaer, The Pious
Sex, S. 15–20. Für die unterschiedlichen Protestrollen von Männern und Frauen
siehe auch Carola Lipp, Frauenspezifische Partizipation in den Hungerunruhen des
19. Jahrhunderts. Einige Überlegungen zu strukturellen Differenzen im Protestver-
halten, in: Manfred Gailus / Jürgen Volkmann (Hg.), Der Kampf um das tägliche
Brot. Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest in Deutschland 1750–1990,
Opladen 1994, S. 200–213.
80 Interessanterweise passt diese Lesart nicht zum katholischen Verständnis des Wider-
standes, das vielmehr die Einheit der protestierenden Gläubigen betonte.
81 Für die Geographie des Boerenkrijg siehe auch Annelies Lernout / Olivier Van
Rode, De Boerenkrijg in het Leie- en Scheldedepartement, in: Luc François (Hg.),
De Boerenkrijg. Twee eeuwen feiten en fictie, Leuven 1998, S. 61–94, insbes. 72–74.
Jean-Marie Mayeur hat für Frankreich auf ein ähnliches Phänomen hingewiesen.
Jean-Marie Mayeur, Religion et politique: géographie de la résistance aux inven-
taires (février – mars 1906), in: Annales 21 (1966), H. 6, S. 1259–1272.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918