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97Katholischer
Pluralismus und die Gewalt der religioneros
Die religioneros und die stockende Säkularisierung
Mexikos im 19. Jahrhundert
Der Aufstand der religioneros begann mit einer Welle von Ausschreitungen
in einzelnen Dörfern gegen Ende 1873, wuchs jedoch rasch zu einer ernst-
zunehmenden Bedrohung – wenn auch amorpher Art und auf ihren loka-
len Charakter beharrend – für die liberale Regierung unter Sebastián Lerdo
de Tejada an. Lerdo selbst war nach einer Periode der Instabilität und des
Konflikts zwischen Kirche und Staat Präsident geworden. Sein Vorgänger,
Benito Juárez, hatte die säkularisierende Reforma-Gesetzgebung der 1850er
Jahre vorangetrieben und die Truppen kommandiert, welche die anschlie-
ßende, von der Kirche gestützte Rebellion niederschlugen. Er hatte sich auch
erfolgreich dem von Napoleon III. eingesetzten habsburgischen Monarchen
widersetzt, der mit Unterstützung des Klerus an der Spitze des kurzlebigen
Segundo Imperio (1862–1867) gestanden hatte12. Doch die politische Instabi-
lität, welche die Regierung in der Zeit nach der französischen Intervention
plagte, erschwerte eine strikte Durchsetzung der Verfassung von 1857 und
der während des Krieges ergriffenen antiklerikalen Maßnahmen. Als Nach-
folger Juárez’ hoffte Lerdo, die Säkularisierung Mexikos endlich zu vollen-
den, indem er die Reformgesetzgebung durch deren Aufnahme in die Ver-
fassung auf Dauer festlegte13.
Bei den Reformgesetzen, die während der Bürgerkriegszeit von der Exil-
regierung unter Juárez beschlossen wurden, handelte es sich um die bislang
radikalsten Maßnahmen zur Säkularisierung Mexikos. In ihrem Bestreben,
die politisch-gesellschaftliche Macht der Kirche zu brechen und ihren Reich-
tum zu verringern, gingen sie noch viel weiter als die Verfassung von 1857.
Die Gesetze verstaatlichten Grundbesitz und Immobilien der Kirche
– sofern
sie nicht unmittelbar für Gottesdienste verwendet wurden –, säkularisierten
Eheschließung und Begräbnis, verboten religiöse Feierlichkeiten außerhalb
der Kirchengebäude, lösten geistliche Orden auf und erklärten Religionsfrei-
heit sowie die Trennung von Kirche und Staat, womit auch protestantische
Missionstätigkeit erstmals möglich wurde. Die Reformgesetze beschnitten
12 La Reforma begann 1855 mit der »Revolution von Ayutla«, mit der eine neue Gene-
ration liberaler Politiker auf den Plan trat, die entschlossen waren, die Macht der
Kirche zu brechen und eine um das Privateigentum organisierte bürgerliche Gesell-
schaft zu schaffen. Auf die liberale Verfassung von 1857 erfolgte ein konservativer
Rückschlag, woraufhin Mexiko abermals im Bürgerkrieg versank. Die Liberalen
obsiegten 1860, wurden aber schon 1862 durch die von Napoleon II. orchestrierte
Intervention gestürzt, die auch von der katholischen Hierarchie Mexikos unterstützt
wurde. 1867 wurden die Franzosen endgültig vertrieben und die liberale Verfassung
wiedereingesetzt.
13 Vgl. Frank Knapp, Jr., The Life of Sebastián Lerdo de Tejada, 1823–1889. A Study of
Influence and Obscurity, Austin 1951, S. 122–124, 214f.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918