Seite - 100 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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100 Brian A. Stauffer
Gegen Ende 1874 kam Gouverneur Rafael Carrillo nicht umhin einzu-
gestehen, dass die Rebellen zu einer ernsthaften Bedrohung für den Staat
Michoacán geworden waren. Schon zuvor hatte er den Kongress des Bundes-
staates ersucht, ihm Notstandsbefugnisse zu erteilen. Als diese keinen Erfolg
brachten, bat er den Bund um militärische Hilfe. Bis Februar 1875 waren
500 Bundestruppen in Michoacán eingetroffen, doch inzwischen hatte der
Aufstand bereits Metastasen gebildet. Im Januar waren die Reformgesetze in
Kraft getreten, und die Vinzentinerinnen gingen nach und nach ins Exil, um
die Ordensgemeinschaft nicht verlassen zu müssen. Diese Ereignisse sorgten
weithin für Empörung und neue pronunciamientos; den bestehenden Ban-
den, von denen manche nunmehr Hunderte Mitglieder zählten, trieben sie
neue Kämpfer zu. Im Frühjahr 1875, auf dem Höhepunkt des Kirchenjahres,
fühlten sich die religioneros stark genug, um eine Reihe von befestigten Städ-
ten anzugreifen. Sie plünderten und brandschatzten Tancítaro, Taretan, Los
Reyes, Paracho und Zacapu; dabei gewannen sie abermals hunderte neuer
Mitglieder aus den Reihen der Landarbeiter und indigenen Bauern21.
Nicht minder sorgenvoll wird die Regierung zur Kenntnis genommen
haben, dass die religioneros allmählich ein richtiggehendes politisches Pro-
gramm zu formulieren und ihre autonomen Banden zu einer Rebellenar-
mee zu organisieren begannen. Im März wurde der Plan von Nuevo Urecho
veröffentlicht, der zu einer Aufhebung der Verfassung von 1857 und der
Reformgesetze, der Wiedererrichtung einer rein katholischen Republik und
zur Einsetzung eines Sondergesandten, der in Rom ein Konkordat aushan-
deln sollte, aufrief 22. Wenig später konstatierten Militärbeobachter, dass
die Rebellen nun disziplinierter und organisierter wirkten als zuvor, und
tatsächlich waren nun einige Anführer zu ihnen gestoßen, die angesehenen
konservativen Familien entstammten23. Berichte von Gräueln, bei denen
Regierungstruppen verbrannte Erde zurückgelassen hätten – auch zivile
Ansiedlungen seien niedergebrannt – gaben im Sommer 1875 den katholi-
schen Leitartiklern reichlich Material zur Anklage gegen die Regierung24.
Im Angesicht einer eskalierenden Krise zeigte sich Präsident Lerdo gegen-
über der Versuchung autoritärer Maßnahmen anfällig, etwa der Einführung
einer Notsteuer zur Kriegsfinanzierung, der Aufhebung verfassungsmäßig
verbriefter Rechte (Rede- und Versammlungsfreiheit, keine willkürlichen
21 Vgl. ebd.
22 El Plan de Nuevo Urecho, 3. März 1875, Archivo General e Histórico del Poder
Ejecutivo del Estado de Michoacán (Morelia, Michoacán; im Folgenden AGHPEM),
Guerra y Ejército, caja 3, exp. 28.
23 Jesús Camarena, Guadalajara, an den Verteidigungsminister, Mexiko-Stadt, 3. Mai
1875, Archivo Histórico de la Defensa Nacional (Mexiko-Stadt; im Folgenden
AHDN), Operaciones Militares, XI / 481.4 / 9211.
24 La Voz de México, 3. Juni 1875, 5. Juni 1875, 8. Juni 1875, 27. Juni 1875 und 18. Juli
1875; El Pájaro Verde, 6. Juni 1875, 8. Juni 1875.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918