Seite - 101 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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101Katholischer
Pluralismus und die Gewalt der religioneros
Verhaftungen) und der standrechtlichen Erschießung verdächtiger Rebellen.
Diese Schritte erregten jedoch den Unmut einflussreicher Politiker innerhalb
seiner eigenen Koalition, die sowohl den Illiberalismus des Präsidenten als
auch die offenkundige Inkompetenz seiner Militärs anprangerten25.
Im Herbst 1875 war die religionero-Krise an einen Wendepunkt gelangt.
Gerüchte einer Verschwörung liberaler Dissidenten in den eigenen Reihen
gegen den Präsidenten wurden verstärkt durch die konkretere Nachricht
eines drohenden Putsches durch General Porfirio Díaz, der Lerdo in den
Präsidentschaftswahlen 1872 unterlegen war26. Um seine Koalition zu stabi-
lisieren, entsandte Lerdo General Mariano Escobedo, der die Republikaner
1867 zum Sieg über die kaiserlich-französischen Truppen geführt hatte, an
der Spitze von 5 000 Bundessoldaten nach Michoacán. Escobedo erwies sich
dieses Vertrauens schon bald als würdig. Anstelle der Kahlschlagstaktik, die
den Sommerfeldzug geprägt hatte, setzte er auf den indulto – die Begnadi-
gung noch auf dem Schlachtfeld –, um die Reihen der Rebellen auszudün-
nen27. Dieses Vorgehen bewährte sich rasch, und in der regierungsnahen
Presse erschienen täglich Listen von Rebellen aus Michoacán, die im Gegen-
zug für die ihnen zugesicherte Straffreiheit die Waffen niedergelegt hatten.
Bevor allerdings die Regierung die Wende verkünden konnte, begannen die
religioneros, sich der Tuxtepec-Revolution des Generals Díaz anzuschließen,
die im Januar 1876 ausgebrochen war. Schon Monate zuvor hatte Díaz über
Gesandte versucht, die religioneros für seine Sache zu gewinnen, war aber
aus ideologischen Gründen zurückgewiesen worden. Nun, im Angesicht des
effektiveren Vorgehens Escobedos, sahen sich die religioneros genötigt, ihre
Ablehnung zu überdenken. Der von Díaz angeführten, heterogenen Koali-
tion gelang es im November 1876 Lerdo abzusetzen28.
Im Namen Díaz’ übernahmen Anführer der religioneros in verschiedenen
Gemeinden Michoacáns das Regiment. Allerdings kam Díaz nun seitens der
Liberalen in der Regierung unter Druck und wandte sich schließlich von sei-
nen katholischen Verbündeten ab. Bis Anfang 1878 versuchte er, die verblie-
benen religionero-Führer für seine Sache zu gewinnen oder ließ sie ermor-
den. Doch trotz dieser Niederlage hatten die religioneros mehrere ihrer Ziele
durchsetzen können. Díaz zeigte sich der Kirche gegenüber versöhnlich; Ver-
stöße gegen die Reformgesetze wurden stillschweigend toleriert und der Kle-
rus konnte sich von einigen materiellen und politischen Verlusten erholen29.
Im Gegenzug nahm die Kirche dem protesta gegenüber eine versöhnlichere
25 Siehe Stauffer, Victory on Earth, Kap 1.
26 Vgl. Cosío Villegas, La república restaurada, S. 625–627.
27 Vgl. Stauffer, Victory on Earth, Kap. 1.
28 Vgl. ebd., Kap. 1 und 6.
29 Vgl. Karl M. Schmitt, The Díaz Conciliation Policy on State and Local Levels,
1876–1911, Hispanic American Historical Review 40 (1960), S.
513–532; José Roberto
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918