Seite - 110 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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110 Brian A. Stauffer
Tatsächlich – ungeachtet der rhetorischen Brandsätze, die manche Peten-
ten zündeten – zeigten die bessergestellten Katholiken, die solche Briefkam-
pagnen trugen, in der Regel wenig Neigung zum Blutvergießen. Sie hatten
Gewalt nicht nötig, denn sie konnten dem staatlichen Antiklerikalismus
entgegentreten, indem sie sich der »kollektiven Aktion« verschrieben, wie es
die Bischöfe empfahlen. Wie schon geschildert, zogen es Laienaktivisten wie
Encarnación Farfán aus Coalcomán vor, ihre Kräfte dem Schulwesen und
nicht der Rebellion zu widmen. Andere wiederum gründeten religiöse Verei-
nigungen, um die Moral ihrer Gemeinde zu heben, wie etwa den »Bund der
Schmerzensmutter«, den Crisóforo Villarreal aus Sahuaya gründete56. Hun-
derte Frauen aus ganz Michoacán schlossen sich der »Vela Perpetua«, der
Mütterorganisation der Vinzentinerinnen, oder dem Frauenbund der »Socie-
dad Católica«, der sich der katholischen Bildung verschrieben hatte, an57.
Manche Katholiken bemühten sich gar, von ihren Regierungsämtern aus
dem von den Reformgesetzen verordneten Laizismus den Stachel zu ziehen.
So verschworen sich mit ihrem Gemeindepfarrer in Jiquilpan (Michoacán)
etwa mehrere führende katholische Laien, die 1873 ins Amt gewählt wor-
den waren, dem protesta durch Nichtanwesenheit in der Stadt am Tag des
Eides zu entgehen58. Als es unmöglich wurde, sich dem protesta zu entziehen,
ohne dabei seinen Posten zu verlieren, gingen manche dazu über, wie etwa
der Zivilrichter Jesús Ordónica, ebenfalls aus Jiquilpan, den Eid einstweilen
abzulegen und ihn zu widerrufen, nachdem der Konflikt 1876 abzuklingen
begann59. Zwar wurden solche Strategien nicht direkt vom Klerus gutgehei-
ßen, doch fügten sie sich insgesamt in das Bild einer breiteren Versöhnung
der Kirche mit einer liberal-rechtsstaatlichen Ordnung. Entscheidend dabei
war, dass diese bürgerlichen Katholiken sich von einer öffentlich und kollek-
tiv ausgeübten Religiosität ab- und einer innerlichen, individuellen Spiritua-
lität zuwandten, wodurch ihr religiöses Weltbild nicht grundsätzlich in Frage
gestellt wurde.
Ungleich mehr stand auf dem Spiel für die plebejischen und indigenen
Katholiken, aus denen sich die breite Masse der religioneros rekrutierte60.
Die unteren Schichten Michoacáns hatten dem katholischen Reformis-
mus schon lange skeptisch gegenübergestanden und lehnten die innerliche
Frömmigkeit und Bevorzugung religiöser Vereinigungen, die vom Klerus
56 Macario Saavedra, Sahuayo, an den Diözesansekretär, Zamora, 7.
August 1875, ADZ,
DGP 971.
57 Vgl. Stauffer, Victory on Earth, Kap. 2.
58 Pascual Bayllac, Jiquilpan, an den Diözesansekretär, Zamora, 20. Oktober 1875,
ADZ, DGP 505.
59 Francisco Tejada de León, Jiquilpan, an den Diözesansekretär, Zamora, 12.
Juni 1876,
ADZ, DGP 505.
60 Zur ethnischen und sozialen Zusammensetzung der religioneros siehe auch
Stauffer, Victory on Earth, Kap. 3–5.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918